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Bei Kellers in Kirgisistan / National Geographic (9 Seiten) / 2006

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Bei Kellers in Kirgisistan
In der Steppe nahe der chinesischen Grenze lebt eine baptistische Gemeinde noch wie zu Urgroßmutters Zeiten. Ein Besuch im letzten deutschen Dorf Zentralasiens, wo die Welt fast zu Ende ist.
Foto: Jörg Müller
Zöpfe, naturblond und lang wie bei Burgfräulein – das ist das Erste, was mir in Rotfront auffällt, diesem geheimnisvollen Dorf am Fuß des Tianshan-Gebirges im Norden von Kirgisistan. Inmitten der kargen Steppe des Tschui-Tals, nicht weit von der alten Seidenstraße. 350 Kilometer sind es bis zur chinesischen Grenze und rund 7000 bis nach Berlin.
«Der Flug hierher ist immer eine Zeitreise in die Vergangenheit. Zwischen Start und Landung liegen 100 Jahre», sagt Stephan Münchhoff, den ich in der Dorfschule treffe. Der 33-jährige Thüringer unterrichtet hier im Auftrag der Zentralstelle für Auslandsschulwesen seit fünf Jahren Deutsch. «Die Arbeit macht Spaß, aber es ist schwer, mit den Familien in Kontakt zu kommen. Dies ist ein abgekapselter, streng religiöser Mikrokosmos. Ich war noch nie bei einem Schüler zu Hause!» Gut 200 deutschstämmige Einwohner hat der abgelegene Ort mit dem kurios kämpferisch klingenden Namen noch,
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die letzte deutsche Gemeinde in Zentralasien. Eine exotische Insel fast am Ende der Welt, 1927 von deutschen Auswanderern unter dem Namen Bergtal gegründet und nach dem Zweiten Weltkrieg in Rotfront umbenannt. So wollten es die Sowjets.
Würzige Landluft und eine sympathische Weltfernheit durchziehen jeden Winkel dieser östlichsten deutschen Siedlung. Sie besteht aus gerade mal zwei parallelen Straßen, die von Bauernhöfen und Pappeln gesäumt sind. Sie heißen „Unter dem Berg“ und „Freundschaft“.
Die Mädchen mit der auffälligen Haarpracht tragen weder Schmuck noch Schminke. Sondern stets lange Röcke, weite Pullover und flache Schuhe. So gehen sie zum Unterricht, so spielen sie Volleyball, backen Brot, hüten Vieh, melken Kühe, machen Butter und Käse, kehren mit Reisigbesen die Höfe und ziehen rote Rüben aus der knochentrockenen Erde. Alles wie zu Urgroßmutters Zeiten.
«Wir haben kein Internet und kein Fernsehen», erklärt mir die 18-jährige Lilli Keller fast ohne Akzent. «Und wir dürfen uns nicht die Haare schneiden.» Sie kommt gerade von der Bibelstunde im Bethaus. So nennen die Rotfronter ihre Kirche, einen klobigen Bau aus den achtziger Jahren. «Wir leben hier hinter dem Mond. Leider. Oder zum Glück. Keine Ahnung.»
Liane Schmidt, ebenfalls 18 und Lillis beste Freundin, ergänzt: «Der Glaube bestimmt unsere Regeln. Wir pflegen alte Werte und Traditionen. Jeder spielt mindestens ein Instrument, Mandoline, Geige, Klavier oder Akkordeon. Und wir können stundenlang Lieder singen.»
Lilli lacht und stubst Liane mit dem Ellenbogen an. Dann wird sie wieder ernst: «Wir beide wollten dieses Jahr in der Hauptstadt Bischkek eigentlich die weiterführende Schule besuchen», formuliert sie etwas umständlich. «Sie werden es nicht glauben: Bisher hat noch kein deutsches Mädchen zwecks Ausbildung das Dorf verlassen. Als die Eltern uns das endlich erlaubt hatten, war die Gemeinde dagegen. Sie meint, in der Stadt würden wir vom Glauben abfallen.»
«Und wie sieht eure Zukunft aus?», frage ich. «Kirche und Kinder, Kühe und Küche», seufzen sie. Dann muss Lilli schnell los. Das Abendessen für ihre neun Geschwister zubereiten.

Fast jeder Deutsche im Dorf gehört der christlichen Glaubensgemeinschaft der Baptisten (Wiedertäufer) an. Es gibt weder Café noch Kneipe oder Sportverein. Keinen Ort, an dem man sich treffen könnte. Alkohol und Zigaretten, Sex vor der Ehe und Verhütung, eine Beziehung gar mit Andersgläubigen – alles verboten. In meiner Unterkunft sind Strom und Wasser ausgefallen. Aber der Ofen bollert. Zum Frühstück gibt es schwarzen Tee und deftige Pferdewurst. Dann raus. Es hat sich schnell herumgesprochen, dass Reporter da sind. Semmelblonde Kinder auf viel zu großen Fahrrädern strahlen mich an und jubeln: «Guten Tag!» Behäbige Bäuerinnen, das Haar hochgesteckt unter dem Kopftuch, stellen schweigend Milcheimer an die Straße. Acht kirgisische Som, umgerechnet 16 Cent, bekommen sie pro Liter.
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In den Gärten hinter den meist weiß-blau gestrichenen zweistöckigen Häusern gackern glückliche Hühner. Schweine grunzen in windschiefen Ställen. Ein Reiter treibt Pferde über die Koppel. Hinter der von der weichen Morgensonne beschienenen Herde ragt der mehr als 4000 Meter hohe Gebirgszug auf. Stachelschweine, Steinböcke, Steinadler und Wölfe leben dort oben. Gletscher leuchten.
«Das ist Medizin für einen Mitteleuropäer, was?», fragt mich plötz-
lich ein Mann mit blauen Augen und Oberlippenbart, als könne er meine Gefühle lesen: «Keller mein Name. Johann Keller.» «Angenehm», erwidere ich. «Ich habe schon von ihnen gehört. Sie sind doch der Vater von Lilli und ihren Brüdern und Schwestern, oder? Die größte Familie hier.»
Keller guckt verblüfft. Dann begleitet er mich ein Stück und ver-
schafft mir Zugang zur Dorfgemeinschaft. Wir kommen zu den Höfen der Hamms und Hofmanns, Janzens und Koops, Peters und Pauls, Thielmanns und Wedels. Alles kinderreiche Clans und alle irgendwie miteinander verwandt. Der Sohn des einen wurde mit der Tochter der anderen verheiratet. Mir fällt auf, dass es viel mehr Mädchen als Jungen gibt. «In Zukunft wird das Verheiraten unter Glaubensgleichen wohl schwierig werden», merke ich an. Keller legt die Stirn in Falten. «Das ist nicht das einzige unserer Probleme.»
Die Einrichtung der Häuser ist immer ähnlich und überraschend modern: dunkle Schrankwand, bunte Teppiche, Plastikblumen, kitschige Bilder mit deutschen Traumlandschaften und christlichen
Sinnsprüchen. Nescafé und Lux-Seife, Colgate, Telefon, Gefrierschrank und Waschmaschine: alles da. Und in fast jeder Auffahrt ein Audi.
«Das ist das beste Auto für diese raue Gegend», erklärt mir Willi Hamm, der 41-jährige stellvertretende Ortsvorsteher. «Irgendwann hat sich der Erste einen aus Deutschland geholt. Dann haben es alle nachgemacht.»
«Viele Sachen aus dem Westen», verrät Lydia Koop, mit 76 Jahren die Dorfälteste, seien von Verwandten in Deutschland bezahlt. «Wir haben doch kaum Geld. Ich habe umgerechnet zwölf Euro Rente im Monat. Das reicht gerade mal für Reis und Drops.»

Das Leben der Großfamilien bewegt sich fast ausschließlich zwischen Bethaus und Bauernhof. Alle haben genügend Vieh und Acker, um sich ganz gut selber zu versorgen. Was auf den Tisch kommt, kommt meist aus dem eigenen Stall oder vom eigenen Feld.
Bezahlte Jobs in der Genossenschaft sind rar. Sie wurde vor zwölf Jahren aus den Relikten der Kolchose gegründet und steht am Rand des Ruins. Die 1998 aus deutschen Mitteln finanzierte und von Bundespräsident Roman Herzog übergebene Molkerei steht still und verrottet. Die Kredite sind versickert. Der ehemalige Ortsvorsteher Abram Falk wurde von der Gemeinde verstoßen und hat das Dorf zusammen mit seinem elfköpfigen Clan fluchtartig Richtung Deutschland verlassen. «Wer Glück hat, verdient in der Bäckerei,
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Schlosserei oder Mühle ein paar Som. Aber meist wird mit Naturalien bezahlt», sagt Johann Keller, der sich mit einer Autowerkstatt selbständig gemacht hat. Dann präsentiert er mir stolz seine Kinderschar: Lilli und Veronika, Anna, Erika, Erwin und Regina, Franz, Nelli, Stefanie und Benjamin. Sie haben sich zum Sonntagsmahl am Tisch versammelt. Es gibt Reis und Reh. Keller hat es als Lohn für eine Autoreparatur bekommen.

Wir können zwar Russisch, aber zu Hause wird nur Deutsch gesprochen», sagt Helene, die Mutter. Der 39-Jährigen steht die Mühsal des Alltags ins Gesicht geschrieben. Meist schweigt sie. Bei den Rotfronter Baptisten herrscht noch ein Rollenverständnis, wie die Bibel es vorgibt: Der Mann ist das Haupt, das Weib die Gehilfin.
Auch bei den Kellers ist Vaters Wort Gesetz. Er erklärt mir die prekäre Situation: Bis zum Zerfall der Sowjetunion lebten hier 2000 Deutsche und nur zwei Kirgisen, die Viehtreiber. Dann erließ die Bundesregierung die Rückführungsgesetze für Auslandsdeutsche. Jeder, der wollte, war willkommen. Und die Verlockung war groß. Die Hoffnung auf ein leichteres Leben fegte das Dorf leer. «Wir», sagt Keller und räuspert sich, «wir werden auf keinen Fall in den Westen abhauen. Wir halten die Stellung.» Lächelnd blickt er in die Runde. Niemand sonst lächelt.
Jetzt leben Kirgisen und Russen in den Häusern, die von ihren deutschen Besitzern verlassen wurden. Man erkennt sie an den
Fernsehantennen auf dem Dach und an den morschen Zäunen. Die meisten Zugezogenen sind Muslime. Sie gehen zum Beten in die Moschee des Nachbarorts Sowchos. Wenn der Wind von Osten weht, hört man den Imam bis in Johann Kellers Wohnstube. «Noch ist zum Glück alles friedlich», sagt Keller besorgt. «Hoffentlich bleibt das so.»
Es ist ganz still. Im Bethaus und in den Ställen sind die Lichter erloschen. Silbriges Mondlicht schimmert durch die Blätter der schlanken Pappeln, die im Wind rascheln. Noch einmal komme ich mit Lilli ins Gespräch. «Außer mir waren so ziemlich alle schon mal in Deutschland. Wenn sie zurückkommen, ist es immer das Gleiche. Die Frauen wollen dort leben, die Männer hier bleiben. Ich frage mich, wie Gott diesen Konflikt lösen wird», erzählt die Schülerin und blickt nachdenklich in den funkelnden Sternenhimmel.
Bevor sie ins Haus geht und sich in der Küche an den Abwasch macht, hat sie noch eine Bitte an mich: «Schicken Sie mir Bücher, Prospekte und auch Zeitschriften. Ich möchte so viel wie möglich wissen über Ihr fernes, fremdes Land. Irgendwann wird es vielleicht auch mein Land sein. Meine Heimat.»