home

Brasilien - Immer in Bewegung / drive (10 Seiten) / 2014

1
Brasilien
Immer in Bewegung
Zur Fußballweltmeisterschaft blicken alle auf Brasilien. ZF ist hier schon lange besonders gut aufgestellt. „drive“ berichtet aus einem aufstrebenden Land, das sich vom Dritte-Welt-Staat zur wichtigen Wirtschaftsnation und zum viertgrößten Automobilmarkt entwickelt hat
Fotos: Dominik Gigler
Der Blick aus dem Helikopter hinunter auf São Paulo ist einfach nur eines: atemberaubend. Die Stadt mit ihren unzähligen Hochhäusern und Straßenschluchten, Parks und Sportanlagen, Wohnhäusern und Gewerbegebieten, aber auch mit den noch immer zu vielen Favelas reicht bis zum Horizont. Sie hört gar nicht auf, Stadt zu sein. Obwohl der Verkehr zäh durch die Straßen fließt, scheint Stillstand hier ein Fremdwort zu sein.
Selbst einer der größten Stadtbusse der Welt ist aus luftiger Höhe gut zu erkennen. In dem 27 Meter langen Volvo-Bus mit vier Achsen und zwei Gelenken finden rund 200 Passagiere offiziell Platz; im Alltag sind es wesentlich mehr. Getriebe und einige Fahrwerkskomponenten des Riesen stammen von ZF. Insgesamt 170 dieser beeindruckenden Niederflurbus-Bandwürmer
2
schlängeln sich durch São Paulo. Das lange geplante BRT-System (Bus Rapid Transit) jedoch – das den Stadtbussen freie Fahrt durch ganz São Paulo ermöglicht – ist noch längst nicht flächendeckend umgesetzt. Es gibt zwar Busspuren, aber sie sind noch nicht gut genug vernetzt.
Ein paar Minuten weiter am internationalen Guarulhos-Airport wird gerade das dritte Terminal gebaut, das bis zur Fußballweltmeisterschaft höchstens provisorisch in Betrieb gehen kann. Die Arena Corinthians im Stadtteil Itaquera befindet sich auch noch in der letzten Bauphase. In dem 65 000-Plätze-Stadion finden das WM-Eröffnungsspiel am 12. Juni zwischen Brasilien und Kroatien, drei weitere Gruppenspiele, ein Achtelund ein Halbfinale statt. Dass sie bis zum WM-Anpfiff fertig wird, dafür schuften 2250 Arbeiter rund um die Uhr. Die Baukosten für das zweitgrößte und drittteuerste WM-Stadion betragen umgerechnet rund 300 Millionen Euro.
Die Magnetschwebebahn durch die City und eine weitere U-Bahn-Linie jedoch, ebenfalls für das Fußballspektakel konzipiert, werden über die WM hinaus Baustelle bleiben. Keine Stadt Brasiliens plante zur Fußball-WM so große Investitionen ins Verkehrsnetz wie São Paulo: 2,86 Milliarden brasilianische Real, etwa 900 Millionen Euro. Zum Vergleich: Rio de Janeiro investiert in sein Verkehrsnetz „nur“ 1,6 Milliarden Real. Insgesamt steckt Brasilien rund 60 Milliarden Real in die Fußballweltmeisterschaft und weitere 40 Milliarden in die Ausrichtung der Olympischen Spiele im Jahr 2016.
Stadt in der Generalüberholung
Beim Helikopterflug über die Metropole ist die Kamera des „drive“-Fotografen im Dauereinsatz. Moderne Glasfassaden blinken in der Sonne. Mehr Hochhäuser als irgendwo sonst, mit Ausnahme von New York, haben Helikopter-Landeplätze auf dem Dach. Und überall ragen Baukräne aus dem schier unendlichen Häusermeer weit in den Himmel. Kein Zweifel, die Megacity unweit der Atlantikküste steckt kurz vor der Fußball-WM noch mitten in der Generalüberholung.
In den vergangenen zehn Jahren ist es in Brasilien gelungen, die Armut großer Teile der 200-Millionen-Bevölkerung einzudämmen. 50 Millionen Menschen stiegen aus armen und ärmsten Verhältnissen in die Mittelklasse auf: In Brasilien werden die Bevölkerungsschichten in A (wohlhabend; das monatliche Familieneinkommen beträgt über 7475 Real) bis E (arm; das Familieneinkommen liegt unter 1085 Real) klassifiziert. Gehörten 2003 noch 27,4 Prozent der Bevölkerung der unterprivilegierten E-Schicht an, sind es aktuell nur noch rund zehn Prozent.
Brasiliens Wirtschaftszentrum
São Paulo ist mit elf Millionen Einwohnern – im Großraum der Industriestadt leben 22 Millionen Menschen – Brasiliens Wirtschaftsund Finanzzentrum. 30 Prozent der brasilianischen Industrieproduktion stammen von hier.
3
Mehr noch: São Paulo, Geburtsstadt solch bekannter Formel-1-Piloten wie Emerson Fittipaldi, Ayrton Senna oder Felipe Massa, sechstgrößte Metropolregion der Welt, ist das Wirtschaftszentrum ganz Latein- und Südamerikas. Kein Konzern, der auf dem südamerikanischen Markt Fuß fassen will, kommt am Großraum São Paulo vorbei.
Dies ist Deutschlands größte Industriestadt.“ So nennt der deutsche Generalkonsul in São Paulo, Friedrich Däuble, die boomende Megacity, rund 10 000 Flugkilometer von Deutschland entfernt. „über tausend deutsche Unternehmen haben sich mittlerweile im Großraum São Paulo angesiedelt. Im Grunde alles, was Rang und Namen hat. 250 000 Menschen arbeiten für die Niederlassungen deutscher Unternehmen“, sagt Diplomat Däuble an seinem Amtssitz. „Die Bedeutung São Paulos für die deutsche Wirtschaft kann man gar nicht überschätzen.“
In Brasilien werden heute so viele Automobile produziert und verkauft wie kaum irgendwo sonst. Die strategische Wichtigkeit des Industriestandortes, insbesondere des Bundesstaates São Paulo, hat ZF bereits vor 56 Jahren erkannt und hier seinen ersten Produktionsstandort außerhalb der Bundesrepublik eröffnet.
Heute ist der Konzern mit seinen vier Divisionen Pkw-Antriebstechnik, Pkw-Fahrwerktechnik, Nutzfahrzeugtechnik und Industrietechnik vor Ort aktiv. Dazu kommt die Business Unit ZF Services sowie das Joint Venture mit Bosch, ZF Lenksysteme. Angesichts der wirtschaftlichen Bedeutung der Region
um São Paulo nicht nur für Brasilien, sondern für ganz Südamerika ist verständlich, warum die Produktionsstätten von ZF im nahen Sorocaba, São Bernardo do Campo und Araraquara liegen. Ein weiteres Werk gibt es zudem in Betim. In Brasilien fertigt ZF mit rund 4300 Mitarbeitern Getriebe für Nutzfahrzeuge, Achsen und Getriebe für Landmaschinen, Schiffsgetriebe sowie Kupplungen, Fahrwerkkomponenten und Lenkungen für Pkw und Nkw. Heimspiel für ZF in dieser Region Brasiliens.
Spezielle Schulungsprogramme
ZF ist ein beliebter Arbeitgeber im Land – nicht nur für junge Ingenieure. Mit speziellen Schulungsprogrammen bildet der Konzern selbst Fachkräfte für Produktion und Montage aus. Einer von ihnen ist Genivaldo de Oliveira Couto, der seit 14 Jahren in einem der beiden ZF-Werke in der 600 000-Einwohner-Stadt Sorocaba arbeitet und mit seinem Job Ehefrau und zwei Töchter ernährt. Der Standort Sorocaba, 90 Kilometer von São Paulo entfernt, hat die meisten Mitarbeiter, hier schlägt das Herz von ZF do Brasil.
Genivaldo de Oliveira Couto hat schon an vielen Fertigungsstationen gearbeitet. Momentan ist er Lackierer. Von den meisten seiner – wie er fußballverrückten – Kollegen wird er nur „schwarzer Ceni“ genannt, wie Rogério Ceni, Torwart und Kapitän seiner Lieblingsmannschaft FC São Paulo. Aus den Reihen des mehrfachen brasilianischen Meisters und Weltpokalsiegers stammen auch so berühmte Nationalspieler wie Kaká, Raí oder Cafu.
4
Genivaldo spielt auch Fußball. Was heißt, er spielt? Er lebt und liebt Fußball, sagt er und zeigt gleich ein paar Kunststücke. Erst tanzt das Leder auf seiner Stirn, dann jongliert er es abwechselnd mit Füßen und Oberschenkeln. Als kleiner Junge kickte er mit den Kumpels auf der Straße. Es gab weder Bolzplatz noch Lederball. Ein Gummiball tat es damals auch. Notfalls die Blechbüchse, der sie barfuß hinterher jagten. Und die Tore markierten oft nur zwei Pflastersteine.
Es kann nur einen Weltmeister geben
Heute sieht das anders aus. Genivaldo spielt als Torwart in der Betriebsmannschaft von ZF in Sorocaba. Bälle, Schuhe, Trikots, auch den gepflegten Rasenplatz stellt der Arbeitgeber. Der ZF-Schlussmann trainiert dreimal die Woche. Meistens wird am Samstag ein Spiel gegen die Betriebsmannschaft eines benachbarten Konzerns angepfiffen. Sooft es geht, besucht er gemeinsam mit seinen Mitspielern und Kollegen die Heimspiele seines Lieblingsclubs. WM-Tickets für eines der sechs Spiele in São Paulo konnte er allerdings nicht ergattern. 57 Prozent der über 2,5 Millionen Tickets gingen zwar an Brasilianer, doch Genivaldo gehört nicht zu den glücklichen. Von den 43 Prozent der restlichen WM-Eintrittskarten gingen die meisten an US-Amerikaner, Kolumbianer, Deutsche, Argentinier und Engländer.
Nach einer Umfrage der brasilianischen Tageszeitung „Folha de S. Paulo“ wollen sich 82 Prozent der brasilianischen Bevölkerung die Spiele im TV anschauen – obwohl es im Vorfeld der WM
heftige Proteste gegen die Ausrichtung der Großveranstaltung, gegen Korruption und Geldverschwendung gab. Noch jüngst waren 24 Prozent der befragten Brasilianer gegen die Ausrichtung der WM im eigenen Land.
Genivaldo indes fiebert dem Großereignis entgegen. Er hofft, dass ZF die Schicht ausfallen lässt, wenn die Spiele der Seleção im Fernsehen laufen. Er zählt die Tage bis zum Eröffnungsspiel. Sein Tipp fürs WM-Finale? Der Torwart lächelt milde, doch seine Augen blitzen: „Brasilien gegen Deutschland. Das Spiel endet 2:1. Es kann nur einen Weltmeister geben. Brasilien!“
Zukunftsmarkt der Automobilbranche
„Wir überlegen tatsächlich, die Arbeit während der Brasilien-Spiele ruhen zu lassen“, sagt Wilson Bricio (siehe Interview Seite 35), seit 2005 Präsident von ZF Südamerika. „Ich denke, unsere Kunden werden es genauso machen.“
Wirtschaftlich hat der Südamerika-Chef durch die WM zwar deutlich stärkere Impulse für ZF do Brasil erwartet, doch mit der Entwicklung des Geschäfts in den vergangenen Jahren ist er zufrieden: „Wir haben unseren Umsatz in den letzten neun Jahren verdoppelt und sind Marktführer in einigen Segmenten des Pkw-Bereichs sowie in praktisch allen Segmenten des Nutzfahrzeugbereichs. Was den in Brasilien boomenden Baumaschinenmarkt betrifft, schalten wir jetzt auch auf Angriff.“
5
Was sind die aktuell wichtigsten Themen auf seiner Agenda? „Wir wollen unsere Wettbewerbsfähigkeit weiter steigern und einen noch besseren Austausch zwischen Brasilien und Deutschland erreichen.“ Dann schmunzelt er und fährt fort: „Deutsche Innovationskraft und Disziplin kombiniert mit brasilianischer Anpassungsfähigkeit und Kreativität wird uns weiterhin voranbringen.“
Dass sich seit dem Jahr 2002 die Lkw-Verkäufe in Brasilien um 160 Prozent steigerten, kommt auch dem Südamerikazweig des ZF-Konzerns zugute, der mit allen großen und namhaften Nutzfahrzeugherstellern zusammenarbeitet. „Brasilien ist für MAN der weltweit wichtigste Markt“, sagt Roberto Cortes, Chef von MAN Latin America, dem größten Hersteller von Lkw und zweitgrößten Hersteller von Bussen in Südamerika. 85 Prozent seiner Umsätze mache der Hersteller in Brasilien, 15 Prozent in den anderen Ländern Lateinamerikas. „Etwa jeden dritten Lkw, der heute über Brasiliens Straßen fährt, haben wir gebaut. Und wenn ich in die Zukunft schaue, gibt es für uns weiterhin viel zu tun in Brasilien.“ Schließlich seien rund 300 000 Trucks 20, 25 Jahre alt.
Bei allen guten Aussichten gibt es auch Gegenwind am Standort unter der äquatorsonne: „Brasilien ist ein rohstoffreiches und aufstrebendes Land, in dem sich ZF aktuell allerdings mit starken Lohnsteigerungen und steigenden Rohstoffpreisen konfrontiert sieht“, resümierte kürzlich der für Südamerika zuständige ZF-Vorstand Rolf Lutz.
Viertgrößte Automobilnation
Trotz aller Auf und Abs und immer neuer Herausforderungen – die Entscheidung, frühzeitig auf Brasilien zu setzen, hat sich für ZF gelohnt. Denn die bereits siebtgrößte Wirtschaftsnation der Welt nimmt immer mehr Fahrt auf. 2015 wird sie die Plätze fünf und sechs, Frankreich und Großbritannien, überholen, schätzen Analysten des Internationalen Währungsfonds.
Mit 3,76 Millionen verkauften Fahrzeugen im Jahr 2013 liegt das Land heute hinter China, den USA und Japan auf Platz vier der größten Automobilmärkte, hat der brasilianische Autoverband Anfavea errechnet. Das Wirtschaftswachstum Brasiliens erreichte 2010 den Rekordwert von 7,5 Prozent und pendelte sich 2013 bei 2,5 Prozent ein (bei einer Inflationsrate von rund sechs Prozent). Eine erfreuliche Entwicklung, an der auch ZF als Arbeitgeber und Wirtschaftsmotor seinen Anteil hat.
Noch wenig Fußball-Euphorie
Von Sorocaba geht es wieder zurück in Richtung São Paulo. Wenige Wochen vor Anpfiff der WM ist bei der Fahrt über die Autobahn fast nichts von ganz großer Fußball-Euphorie zu registrieren. Es gibt weder Werbeplakate mit den Konterfeis der Fußballstars an den Straßenrändern noch Brasilienflaggen an den Antennen oder Außenspiegeln von Pkw oder Lkw, die auf das kommende Großereignis hinweisen. Auch die Medien halten sich zurück.
6
„Das wird sich schlagartig ändern, wenn die ersten Mannschaften nach Brasilien kommen und ihr Quartier beziehen“, ist Imbissbetreiber Toni Dedè zuversichtlich. „Dann gibt es Fußballberichterstattung und Freudenfeste rund um die Uhr.“
Kontrolle der Membranfedern
Ein kurzer Zwischenstopp noch im ZF-Werk in São Bernardo do Campo, wo Kupplungen produziert werden. Hat Anita Luiza Muller Interesse an der Weltmeisterschaft? Sie lacht laut und nickt heftig: „Ehrensache! Auch Frauen werden in Brasilien als Fußballfan geboren.“
Anita Luiza Muller arbeitet bereits seit 30 Jahren hier. Gerade kontrolliert sie, ob die Membranfedern für Pkw-Kupplungen zu 100 Prozent den Vorgaben entsprechen. Mit geschultem Blick untersucht sie die Membranfedern und überprüft die digitalen Messwerte am Computerbildschirm. „Nach so vielen Jahren frotzeln die Kollegen schon, ich sei Betriebseigentum von ZF“, erklärt die Präzisionsarbeiterin mit den streng zurückgekämmten Haaren lächelnd. „Doch das ärgert mich nicht. Ganz im Gegenteil. Es macht mich sehr stolz.“ Stolz ist sie auch, wenn sie am Wochenende mit Familie oder Freunden zum Strand oder in eine der bei Brasilianern so beliebten Shoppingmalls fährt. Dann kann sie sich oft den Hinweis nicht verkneifen: „Guckt mal, viele dieser schönen Autos würden gar nicht fahren, wenn ich nicht an ihnen mitgearbeitet hätte.“