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Hereinspaziert / Max (8 Seiten) / 2002

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»Hereinspaziert«
Wie effektiv sind die Kontrollen für Besucher des Berliner Reichstags? Das TAGEBUCH der MAX-Reporter, die mit Sprengstoff im Reichstag waren
Foto: Wolfgang B.
28. APRIL 2002
Nach zwei Tagen waren die Bücher da, aus der Schweiz. Es sind Anleitungen für Amoklauf und Attentat. Auch ohne große Chemiekenntnisse, ohne Labor, lassen sich Sprengsätze basteln. Mit Substanzen aus dem Supermarkt, der Apotheke, aus Baumarkt, Gartencenter und vom Metzger: Mehl, Zucker, Pökelsalz, Aktivkohle, Holzkohle, Rizinusöl, Schwefel, Quecksilber, rezeptfreie Medikamente, Salpetersäure, Brennspiritus.
Auch Dünge- und Unkrautvernichtungsmittel sind Zutaten für Sprengstoffe mit einer Detonationskraft von fünfhundert bis weit über tausend Metern pro Sekunde. Die Druckwelle eines Drei-Kilo-Sprengsatzes würde im Umkreis von sieben, acht Metern verheerend wirken.
Ein Sprecher des Bundeskriminalamts (BKA) sagt am Telefon: "Viele dieser Substanzen, richtig vermischt, sind detonationsfähig. Bomben bauen
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kann heute praktisch jeder." Deshalb hielten sich alle Sprengstoffexperten und Entschärfer seiner Dienststelle an einen Ehrenkodex: "Kein Kommentar zu diesem brisanten Thema." Bernhard Lammert, 42, aus Bad-Sassendorf in Nordrhein-Westfalen, Mitglied beim Deutschen Sprengverband und Inhaber eines Familienunternehmens in dritter Generation, das marode Brücken und alte Industrieanlagen sprengt, bestätigt, dass man aus "diesen handelsüblichen Zutaten Sprengstoff herstellen kann. Das lässt sich in jeder Bibliothek nachlesen".
Das Bundeskriminalamt warnt seit Jahren vor den so genannten Küchentisch-Bomben, die sich daheim nach Anleitungen auch aus dem Internet zusammenbasteln lassen. Aus Pökelsalz, Holzkohle und Schwefel etwa lässt sich Schwarzpulver mischen. In den neunziger Jahren wurde in letzter Minute ein Anschlag mit einer solchen Heimwerkerbombe auf ein deutsches Bankhaus vereitelt.
Die simplen Sprengsätze gelten bei Experten als Tabu-Thema, weil man potenzielle Attentäter gar nicht erst auf die Idee bringen will. Mit der Folge, dass einfache Sicherheitskräfte wenig darüber wissen und verdächtiges Material arglos durchwinken. Metalldetektoren schlagen bei den meisten Ingredienzien nicht an. Aber da man für eine Bombe mit verheerenden Folgen einige Kilogramm Salz oder Düngemittel benötigt, müssten derartige Mengen geschultem Personal am Röntgengerät auffallen, ebenso Stoffe wie Salpetersäure, Quecksilber oder Schwefel.
30. April 2002
Die Zutaten kosten 24 Euro, 95 Cent: Pökelsalz ("Machen Sie aber keinen Blödsinn damit", sagt der Verkäufer im Fleischereigroßhandel am Tiergarten), Rizinusöl, Salpetersäure, Fieberthermometer. Eine Glühlampe, vom Glas befreit, kann den Sprengsatz zünden. Getrennt und unbearbeitet und somit völlig ungefährlich kommen diese Materialien in einen grünen Rucksack, zusammen gut drei Kilogramm. Fertig ist das Testpaket für die Kontrollen. Wer von einem Experten intensiv geschult wurde, der schöpft Verdacht, wenn er dieses für Touristen eher ungewöhnliche Gepäck registriert.

1. Mai 2002
Klaus Leiner, ehemaliger Mitarbeiter des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) und stellvertretender Präsident des Bundesverbands unabhängiger deutscher Sicherheitsberater und Ingenieure, kommt mit in den Berliner Reichstag.
Die Verwaltung des Bundestags steht vor einem Problem: Wir gewährleistet man größtmögliche Sicherheit bei größtmöglichem Durchlasstempo? Etwa viereinhalb Millionen Menschen haben den imposanten Bau seit seiner Eröffnung besichtigt und warten darauf oft stundenlang. Hausherr Wolfgang Thierse will, dass möglichst viele Menschen ins Parlament kommen, in die demokratische Machtzentrale, dorthin, wo die Volksvertreter argumentieren, streiten, politische transparent zu machen versuchen. Thierses vorbildliche Haltung wird von allen Parteien geteilt. Niemand will Hysterie. Andererseits:
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Kontrollen sind nötig, also sollten sie auch mit der größtmöglichen Sorgfalt von gut ausgebildetem Personal vorgenommen werden.
"Und da habe ich erhebliche Zweifel", sagt Sicherheitsexperte Leiner.
Der Reichstag hat verschiedene Eingänge. Die Schleusen für Politiker sind gut gesichert. Journalisten müssen ihre Akkreditierung zeigen, die Personalien sind der Verwaltung bekannt. Schwachstelle ist der Besuchereingang.
11.55 Uhr. Die Schlange der Wartenden am Besuchereingang ist etwa fünfzig Meter lang. Einzeln wird jeder durch die Sicherheitsanlagen geschleust, identisch mit denen an einem Flughafen. Man entleert die Hosentaschen und geht durch das Tor des Metdalldetektors. Jacke und Gepäck kommen auf das schwarze Laufband des Heimann-Röntgengeräts. Die beiden Wachfrauen, die vor dem Monitor sitzen, schöpfen keinen Verdacht. Sie wollen auch nicht in den schweren Rucksack blicken.
Stichproben bei Gepäckstücken, die abschreckend wirken würden, sind offenbar selten. In anderen Ländern, in nahezu jedem Museum, ist es üblich, dass große Gepäckstücke an der Garderobe abgegeben werden müssen oder Schilder am Eingang darauf hinweisen, dass Sperriges ganz verboten ist.
Ein Beamter hinter der Schleuse hantiert mit seinem Detektor. Mit diesem Gerät werden einzelne Personen nach Metall durchsucht, wenn die Schleuse Alarm gibt.
Er beschwert sich lautstark bei einem Kollegen: "Das Gerät funkelt rot wie ein Weihnachtsbaum, und ihr lasst die Leute trotzdem durch. So
geht das doch nicht."
Niemand reagiert. Es werden nur wenige Männer abgetastet, Frauen gar nicht. Für diese Schicht ist anscheinend keine Beamtin eingeteilt. Und männliche Sicherheitskräfte dürfen weibliche Besucher nicht anfassen. Sicherheitsexperte Leiner sagt: "Die Geräte scheinen falsch eingestellt zu sein. Das Security-Personal wirkt überfordert, nicht sehr professionell. Zudem ist anscheinend niemand mit wirklich geübtem Auge da, der etwas abseits steht und den Überblick behält."
Etwa 25 Leute betreten den Fahrstuhl, der direkt in die Glaskuppel fährt. "Dass hier jeder mit Taschen, Beuteln, Rucksäcken und Fotokoffern umhermarschieren darf, ist sicherheitstechnisch eine Katastrophe", sagt Leiner während des Kontrollgangs durch die Kuppel. Der Fotograf verschwindet mit dem grünen Rucksack derweil auf die Toilette, um Bilder vom Inhalt zu machen. Er ist für 15, 20 Minuten weg. Ein Attentäter hätte auf jeden Fall genügend Zeit, seinen Sprengsatz zu bauen, sogar mit einem Fernzünder. Wir gehen noch einen Schritt weiter und deponieren den Rucksack oben in der Kuppel. Polizei und Sicherheitsbeamte kümmern sich nicht darum.

2. Mai 2002
18.20 Uhr. Der nächste Versuch. Wieder stecken Pökelsalz, Rizinusöl, Salpetersäure, Quecksilber und eine Fahrradlampe im grünen Rucksack. Ich passiere die Sicherheitsschleuse erneut ohne Probleme. Der Fotograf macht Bilder von den Detektoren und Röntgengeräten, bis ihn ein Beamer darauf hinweist, dass das nicht erlaubt sei. Er knipst
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ungehindert weiter. Der Weg führt diesmal ins Restaurant "Käfer" oben auf dem Dach des Reichstags. Links vor dem Restauranteingang sitzen zwei Sicherheitsbeamte in einer Nische und beobachten die Kuppel. Der Fotograf macht auf der Restauranttoilette erneut ausgiebig Bilder.
Frage an die Managerin: Was passiert, wenn man draußen etwas vergessen hat? Muss man dann noch einmal durch die Kontrolle? Die Managerin sagt, wenn man einen Tisch bestelle, dann könne man später durch den Behinderteneingang, rechts neben dem Besuchereingang, wieder hinein und so die Warteschlange umgehen.
Wie wir beobachten, gelangen Kinderwagen und Rollstühle oft nur sehr oberflächlich oder ganz ungeprüft ins Gebäude. Wir reservieren einen Tisch für 19.45 Uhr, dann gehe ich wieder hinaus aus dem Reichstag, samt Rucksack. Der wird draußen auf dem Parkplatz noch praller gestopft: noch ein Viertelliter Säure, dazu ein zweieinhalb Kilo schwerer Beutel mit Pökelsalz. Auch am Behinderteneingang gibt es die Metalldetektor-Schleuse und das Heimann-Röntgengerät. Auf dem Bildschirm erscheint der Salzsack bedrohlich schwarz. "Was ist denn das?" fragt die Security-Dame und deutet auf den Bildschirm. "Eine Bombe", sage ich. Sie lächelt und erwidert: "Lassen Sie mich doch mal sehen." Sie öffnet den Rucksack.
Der durchsichtige Plastikbeutel mit dem weißen Pulver und der Aufschrift "Nitrit", erkläre ich, sei nur Salz für ein Picknick später im Tiergarten. "Ach so, dann ist ja gut", sagt sie. Wieder ist der Weg frei für mich. Oben in der Kuppel stellen wir den Rucksack für eine
Viertelstunde auf die Rampe, die auf die Plattform führt, nahe an Menschengruppen, dicht an die Polizisten. Keine Reaktion. Im Restaurant stellen wir die Säureflaschen und den Nitritbeutel mitten auf den Tisch. Wir machen Fotos. Dann schleppt der Fotograf den Rucksack mit auf die Toilette und bleibt zwanzig Minuten verschwunden. Ist Auffälligkeit womöglich der beste Schutz vor prüfenden Fragen?

8. Mai 2002
In verschiedenen Berliner Ministerien geht ein Schreiben des BKA ein. MAX-Reporter, hieß es da, wollten mit Sprengstoff in Gebäude des Regierungsviertels eindringen, um Sicherheitslücken aufzuzeigen. Die Aktion scheint sich langsam herumzusprechen. Auch bis zu den Sicherheitskräften im Reichstag? Werden sie von nun an aufmerksamer sein? Und haben sie von den BKA-Experten inzwischen erfahren, wie man Selbstlaborate, also "Küchentisch-Bomben", identifizieren kann? Offenbar nicht.

9. Mail 2002
10 Uhr. Heute geht es noch einfacher. Die lässigen Security-Schleuser drängen zur Eile. "Bitte rücken Sie durch zum Fahrstuhl, der fährt gleich hoch." Diesmal habe ich Düngemittel (Ammoniumnitrat) und Mehl dabei. Aus diesen Zutaten soll einst die RAF einige ihrer Bomben gebaut haben. In den USA sprengen Farmer damit Baumstümpfe samt Wurzeln aus dem Boden. Wenigstens den Beamten in der Kuppel
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müsste mein Gesicht doch langsam mal bekannt vorkommen, irgendwann müsste ihnen doch endlich mal irgendwas verdächtig erscheinen.
Ganz offensichtlich inspizieren wir Abfallkörbe, notieren Standorte von möglicherweise versteckten Kameras, checken jede Tür, die uns eigentlich nichts angeht, fotografieren Details, die keinen Touristen interessieren, machen Notizen über Notizen, gucken in den Putzraum neben der Besuchertoilette. Unter die Tür ist nur ein Holzkeil geschoben. Drinnen liegt eine Bild-Zeitung, stehen Wischeimer, Reinigungsmittel und Scheuerbürsten.
Auch hier könnten potenzielle Attentäter in aller Ruhe einen Sprengsatz bauen und deponieren. Die Sicherheitsleute indes riskieren keine Frage, nicht mal einen skeptischen Blick. Stehen lässig beieinander und plaudern.

10. Mai 2002
15.50 Uhr. Eine Menschenschlange vor dem Reichstag. Diesmal ist Schwefel, Holzkohle und Pökelsalz im Gepäck, was, im richtigen Verhältnis gemischt, Sprengpulver ergibt.
Die Sicherheitsschleuse ist wieder defekt. Die Glühlampen des Detektor-Durchgangs stehen pausenlos auf Rot. Ich weise den Wachmann darauf hin: "Ihr Gerät ist defekt." Er antwortet: "Wissen wir. Das Ding spinnt öfter. Nichts Besonderes hier." Ohne Beanstandungen betreten wir den Fahrstuhl und kurz darauf die Kuppel. Diesmal wollen
wir wissen, ob man nicht doch noch die Aufmerksamkeit der Sicherheitskräfte erregen kann. Fast zwei Stunden bewegen wir uns wieder so merkwürdig wie möglich. Der Fotograf macht diesmal Bilder mit der Videokamera und dem Fotoapparat. Gibt auffällig-heimliche Zeichen mit Kopf- und Handbewegungen: Misch dich unter eine Besuchergruppe, lass den Rucksack inmitten der Menschenmenge stehen.
17.45 Uhr. Wieder raus aus dem Reichstag. Draußen in der Schlange wartet bereits ein dritter Mann, einer unserer Zeugen, die wir dabei haben, damit wir später belegen können, dass unsere Beobachtungen stimmen. Mit ihm zusammen betrete ich wieder das Gebäude. Wieder Kontrolle, vom gleichen Security-Mann, der schon am Nachmittag vor dem Röntgengerät saß. "Hello again." Er nickt. Fragt, ob die Flaschen (Wein und Wasser) in meinem Rucksack auch geschlossen seien.
18.35 Uhr. Das obligatische Foto auf der Restauranttoilette. Wir huschen mit gepäck am Tresen entlang. Einer von den Servicekräften schöpft Verdacht. Meldet seine Beobachtungen der Reichstags-Polizei.
18.40 Uhr. Die Fotos sind im Kasten, als es an der Klotür pocht. "Hallo, hier ist die Polizei. Was machen Sie da drin?" Wir öffnen die Tür, werden festgenommen. Zur Feststellung unserer Personalien bringen uns die Beamten in ihre Einsatzzentrale im Erdgeschoss des Reichstags. Wir geben uns als Reporter von MAX zu erkennen und
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erklären, dass wir mit den mitgebrachten Substanzen die Sicherheitskontrollen testen wollten. Die Polizisten beschlagnahmen die Chemikalien und nehmen dem Fotografen die Filme ab. Eine gute Stunde später werden wir wieder auf freien Fuß gesetzt und verlassen den Reichstag. Der dritte Mann, den wir als Zeugen mitgenommen hatten, verlässt etwa zur gleichen Zeit unbehelligt den Reichstag.
Kurz darauf fürchtet die Reichstagsverwaltung, MAX könnte eine Atrappe deponiert haben, um die Sicherheit bloßzustellen (was nicht der Fall war). Der Reichstag wird evakuiert und geschlossen. Suchhund-Führer bieten sich an, sofort loszulegen.
Doch die Beamten bestellen die Spezialisten erst für Samstagmorgen, 10 Uhr, mitten im Publikumsverkehr des Wochenendes, was das "Abspüren" unmöglich macht.
Am Samstag, bei der Durchsuchung, wird den Hundeführern immer wieder gesagt, wo überall sie nicht suchen müssten, "weil da immer abgeschlossen ist". Die Stichprobe des Hundeführers ergab den Gegenbeweis: eine Tür war unverschlossen.
Als MAX die Bundestagsverwaltung mit der Mängelliste konfrontierte, antwortete Pressechef Hans Hotter lapidar mit dem "für Sie hoffentlich nachvollziehbaren Hinweis, dass ich Ihnen über die Details zu einzelnen Sicherheitsmaßnahmen keine Informationen geben werde".