home

Ich wusste genau: Jetzt sterbe ich / Maxim (8 Seiten) / 2009

1
Ich wusste genau: Jetzt sterbe ich
Sie überlebten einen Flugzeugabsturz oder eine Explosion. Aber wie lebt man weiter? Gespräche mit fünf Männern, die dem Tod ins Auge sahen.
Fotos: Erik Weiss
TIMO GLOCK, 27, RENNFAHRER
MIT TEMPO 200 GEGEN DIE WAND
Bis zu diesem Tag, dem 20. Juli 2008, verlief meine erste Formel-1-Saison ziemlich rasant. Ich war auf gutem Weg, mein selbst gestecktes Ziel zu erreichen: die Top Ten der Fahrerwertung. Und auf das Rennen auf meiner Hausstrecke in Hockenheim hatte ich mich besonders gefreut. Ich war motiviert bis in die Zehenspitzen. "Dies ist mein Tag", wusste ich, "mein Rennen, meine Show, da gibt’s gar nichts!" 120 000 Zuschauer waren an der Strecke, unter ihnen mein Vater, meine Freundin und alle meine Kumpels. Meine Mutter, die immer sorgenvoll sagt, "Junge, fahr nur nicht so schnell!", war zu Hause geblieben und saß gemeinsam mit gut fünf Millionen Menschen in Deutschland vor dem Fernseher.
Das Rennen lief gut für mich. Ich lag an achter Position und wollte weiter nach vorn, so richtig fett in die Wertungspunkte kommen. Da hast du den totalen Tunnelblick, nur die Rennwagen
2
vor dir im Visier. Alles andere ist ausgeblendet, du bist hoch konzentriert und bis unter die Haarwurzeln mit Adrenalin vollgepumpt. Formel 1 - das ist für mich wie Kampfsport. Dann kam die 35. Runde. Ich hatte gerade den Boxenstopp hinter mir und hatte gut zurück ins Rennen gefunden. Plötzlich, etwa bei Tempo 200, eingangs der Start-Ziel-Geraden, brach mein Wagen aus. Er geriet auf die Randsteine, er drehte sich. Eine Ewigkeit, so kam es mir vor. "Ach du Scheiße", schoss es mir durch den Kopf, "Fahrfehler! Wie peinlich. Gerade hier, auf meiner Hausstrecke." Später stellte sich heraus, dass eine gebrochene Spurstange schuld war. Mir war sofort klar: Aus, vorbei, dieses Rennen ist für mich zu Ende. Wenn ich Glück hatte! Denn plötzlich war ich nicht mehr Fahrer, ich war nur noch Passagier im eigenen Auto. Es wurde echt ungemütlich im Cockpit. Ich konnte auf gar nichts mehr Einfluss nehmen. Ich klammerte mich am Lenkrad fest, riss die Augen auf, spannte die Muskeln und hielt den Atem an. Ich schoss rückwärts frontal auf die Begrenzungsmauer zu. Das war eine massive Mauer, breit und bedrohlich, keine "weiche" Sicherheitssperre. Ich konnte nichts tun, gar nichts - außer auf den Knall zu warten und auf die Sicherheitstechnik in meinem Cockpit zu vertrauen.
Normalerweise hast du hinter dir nur den Motorblock und das Getriebe, die keinerlei Aufprallenergie abfangen können - doch mein Toyota war nach den neuesten Rennstandards auch mit einem Heckschutz ausgestattet, der die Energie vom Fahrer wegleitet. Die paar Sekunden bis zum Crash - es waren knapp vier -
kamen mir wie eine Ewigkeit vor. Es waren mit Sicherheit die längsten Sekunden meines Lebens. Aber gleichzeitig war ich mir irgendwie sicher: Du bist noch nicht dran - diesen Crash wirst du überleben. Mein Toyota schob sich an der Mauer wie eine Ziehharmonika zusammen. Ich spürte die Mauer schon an meinem Rücken - es war ein heftiger Schlag. Kurz vor meinem Rennsitz machte sie halt. Trotzdem fürchtete ich, dass meine Wirbelsäule etwas abbekommen hatte. Ein Rennfahrer mit kaputtem Rücken -das macht sich gar nicht gut. Aber die Gefahr war noch nicht vorüber. Das zusammengefaltete Wrack löste sich von der Mauer und schleuderte zurück auf die Piste. Ich fürchtete, dass die anderen Wagen, die im Rennen hinter mir lagen, in mich reindonnern würden. Mein Kopf wurde plötzlich ganz klar. Ich wusste: Ich muss kämpfen und versuchen zu lenken. Irgendwie schaffte ich es, mit dem völlig zerstörten Fahrzeug gerade noch Nick Heidfeld auszuweichen. Dann blieb ich endlich im sicheren Kiesbett liegen. Der Spuk war vorbei. Weitere Rennwagen jagten an mir vorüber, doch ich hörte nichts. Um mich war absolute Stille. Meine volle Konzentration war auf mich selbst gerichtet: Ich checkte, ob die Extremitäten noch funktionierten, und versuchte, Hände und Füße zu bewegen. Sie waren okay. Dann half ein Streckenposten mir, aus dem Wrack zu steigen, ich ging ein paar Schritte, setzte mich auf einen Campingstuhl, der da herumstand, guckte zum Himmel hoch und dachte nur: Gott, mach, dass mit den Lendenwirbeln nichts ist! Dann war auch schon der Arzt da. Ein Rettungswagen brachte mich ins Medical Center. Dort wurde ich sofort untersucht, und die
3
Ärzte stellten fest: Alles heil geblieben. Trotzdem behielten sie mich die Nacht über zur Beobachtung da.
Am Abend zeigten sie meinen Horrorcrash in den Nachrichten. Ich aß gerade Nudeln, meine Freundin saß bei mir am Bett. Sie hatte Tränen in den Augen und konnte gar nicht hingucken. Ehrlich gesagt: Erst beim Anblick dieser Bilder realisierte ich, was für ein Wunder es war, dass ich praktisch ohne Kratzer davongekommen war. Wenige Tage später saß ich schon wieder zu Testfahrten im Boliden. Bedenken hatte ich keine - ich vertraue meinem Team. Beim nächsten Rennen in Budapest wurde ich Zweiter. Das war dann auch meine beste Platzierung der letzten Saison, in der ich schließlich Zehnter wurde: Ich hatte mein Ziel erreicht. Der Crash hat mich nicht zurückgeworfen und auch nicht verunsichert. Im Gegenteil: Er hat mich irgendwie härter gemacht, entschlossener - und schneller. Dieses Jahr will ich es in die Top Five schaffen, 2010 will ich Weltmeister werden. Angst? Nein, die hat bei mir im Cockpit keinen Platz.
MICHAEL THIEL, 49, TECHNIKER
ABSTURZ MIT DEM FLUGZEUG
Rund tausend Flugstunden mit verschiedenen Maschinen habe ich bereits auf dem Buckel, ich habe eine Notlandung mit brennendem Motor hinter mir und einen Beinahe-Absturz in den Alpen. In Sachen Fliegen fühle ich mich ziemlich versiert. Dann kam der 5. Juni 2006: blauer Himmel, kaum Wind, ideales Flugwetter. Ich wollte einen Testflug mit einem neuen russischen Ultraleichtflugzeug,
einem Trike, machen: Zweisitzer, 70 PS, Reichweite drei Stunden, Maximalgeschwindigkeit 130 km/h, 475 Kilogramm Abflugmasse, empfohlene Reiseflughöhe 700 Meter, maximale Flughöhe 4000 Meter. Ich zog meine Schutzbekleidung an - die gleiche, die ich auch auf dem Motorrad trage. Der Start in Saarmund bei Potsdam verlief ganz normal. Ich ging schnell auf 700 Meter Höhe. Doch schon bei den ersten Manövern in der Luft merkte ich, dass das Flugverhalten des Trikes viel zu sensibel war. Der Flieger wirkte flatterig. Es stimmte etwas nicht. Schnell zurück, beschloss ich. Ich drehte ein paar Platzrunden, weil auch andere im Anflug auf die Landebahn waren. Kein Problem, ich wollte nicht vordrängeln und würde die Sache schon im Griff behalten. Von meinen Problemen mit der Maschine sagte ich dem Tower nichts.
Viele, die mich kennen, nennen mich "Speedy", weil ich als draufgängerisch und furchtlos gelte. Doch jetzt saß mir die Angst im Nacken. Das Flugzeug reagierte nicht mehr richtig - das fühlte sich nicht gut an. Es vergingen zehn Minuten, bis ich die Landeerlaubnis hatte. Mir blieben zwei Möglichkeiten: entweder den Flugplatz übers freie Feld anzufliegen oder über einen dicht bewachsenen Mischwald. Mein Instinkt sagte mir: Wald ist besser. Wenn es rich-tig ernst wird, federn die Bäume die Maschine ab. Aufs Feld dagegen würde ich wie eine reife Tomate klatschen. Zu dem Zeitpunkt glaubte ich noch, dass ich die Kiste zu 80 Prozent sauber runterkriege.
Doch ich war kaum über dem Wald, da geriet ich plötzlich in heftige Turbulenzen. Das Flugzeug fing an, sich wie ein Blatt im Herbstwind aufzuschaukeln. Ich war noch 200 Meter hoch - und der
4
Flieger nicht mehr steuerbar. Im steilen 60-Grad-Winkel ging es runter. Die Furcht schnürte mir die Kehle zu. Beim normalen Landeanflug beträgt der Winkel 10 oder 15 Grad. Wenn mir jetzt nichts einfiel, würde ich am Boden zerschellen, also gab ich Vollgas, wollte den Flieger hochreißen. Doch Bruchteile von Sekunden später wurde es richtig dramatisch, ich benötigte dringend Hilfe von meinem Schutzengel, der hoffentlich gut gefrühstückt hatte und über große Flügel verfügt. Denn die Maschine reagierte überhaupt nicht, sie wurde nur schneller. Und um das Rettungssystem, eine Art Fallschirm, zu aktivieren, war es viel zu spät. Gut 20 Meter über den Baumwipfeln war mir klar: Ich stürze ab. Die Bäume, dachte ich, sind meine letzte Chance. Ich sah die grünen Wipfel als Lebensretter, hielt auf die größte Baumkrone zu. Das Entweder-Oder war gekommen. Es ging alles blitzschnell. Es krachte und knirschte. Die Äste brachen wie Streichhölzer weg. Etwas knallte gegen meinen Helm. Zum Glück habe ich beim Helm nicht gespart, dachte ich noch. Dann schlug ich auf dem Waldboden auf. Es dauerte einen Moment, ehe ich begriff: Ich bin noch am Leben. Aber jetzt kam die Panik vor dem Feuer, mein Tank war ja noch fast voll. Ich realisierte nun erst richtig, wie nahe ich dem Tod war. Und zwar noch immer. Der Kampf war noch nicht gewonnen. Das Flugzeug und Berge von gesplittertem Holz lagen auf mir drauf. Der Gurt fesselte mich an die Maschine. Ich überprüfte, ob noch alles an mir dran war. 30 Sekunden hat es gedauert, bis ich mich vom Gurt befreien konnte, noch mal so lange, bis ich aus dem Trümmerhaufen raus war. Während dieser Zeit gingen mir Actionfilmszenen durch den Kopf, in denen Leute nicht
mehr rechtzeitig aus brennenden Wracks herauskamen und in einem explodierenden Feuerball krepierten. Diese Sekunden am Boden waren die schlimmsten.
Ich befreite mich und rannte zehn, zwölf Meter weit weg von der Absturzstelle. Du bist also davongekommen, dachte ich, als ich stoppte, um zuerst an mir, dann auf die Unglücksstelle hinunterzusehen. In diesem Moment war ich ganz sicher der glücklichste Mensch auf der Welt. Ein Rettungshubschrauber brachte mich ins Berliner Klinikum Steglitz. Dort stellten die Ärzte fest, dass ich außer Prellungen und blauen Flecken nichts hatte. Und sobald es ging, bin ich in Saarmund wieder in den Flieger gestiegen. Sogar zusammen mit meinen Kindern. Fliegen ist noch immer meine ganz große Leidenschaft.
FRANK DORNSEIF, 39, EX-SOLDAT
AUTO-BOMBE IN KABUL
Mein Einsatz in Afghanistan hatte am 3. März 2003 begonnen. Es war bereits mein dritter im Ausland. Ich war zuvor - Ende der Neunzigerjahre - schon zweimal in Bosnien-Herzegowina gewesen. Gut war es da, wir konnten helfen und wurden von den Leuten freudig begrüßt. Aber vor dem Abflug nach Afghanistan habe ich zum ersten Mal überhaupt zu meiner Frau gesagt: "Du, ich habe Angst."
Ich war Hauptfeldwebel und als Logistiker mit einem elektronischen Aufklärungstrupp in Kabul unterwegs. Wir fuhren mit versteckter Hightech in der Stadt und in der Umgebung herum, hörten Telefonate und Funksprüche ab. Drogengeschäfte, Straftaten,
5
Sprengstoffanschläge zu verhindern, das war unser Auftrag. Das war gefährlich - und ich war froh, als es nach drei Monaten pausenlosen Auslandseinsatzes endlich wieder nach Hause gehen sollte. Fastgeschafft. Nichts wie weg.
In der Nacht vor dem Abflug feierten wir im Lagerhaus des Truppencamps Abschied mit Grillfleisch und deutschem Fassbier. Ich telefonierte noch mal mit meiner Frau und meiner zehnjährigen Tochter. Am nächsten Morgen - es war der 7. Juni - hieß es antreten zur Vollzähligkeitskontrolle. Zwei Busse standen bereit. Einer für uns 33 Soldaten, im anderen verstauten wir das Gepäck.
Eigentlich wollte ich rechts vorn am Fenster sitzen. Doch die Plätze waren belegt, also setzte ich mich nach hinten. Ein letzter, nicht besonders wehmütiger Blick zurück, dann raus aus dem Tor über die Jalalabad Road Richtung Flugplatz. Es war das Pfingstwochenende. Ich würde rechtzeitig zu den Feiertagen zu Hause sein. Ein Traum. Im Bus war es furchtbar heiß und stickig. Ich sah noch, wie einer meiner Kameraden ganz vorn rechts aufstand. Er wollte wohl die Lüftungsklappe öffnen. Es war das Letzte, was er in seinem Leben tat. Und das Letzte, was ich für mehrere Tage sah. Denn in dieser Sekunde begann der Horror schlechthin: Unmittelbar neben dem ungepanzerten Bus ging ein 150-Kilo-Sprengsatz hoch, der in einem Taxi, einem alten Lada, versteckt war. Ein Selbstmordattentat. Das war’s, funkte mein Hirn. Aus, finito.
Das Komische war: Ich hörte keinen Knall und spürte keine Hitze. Diese Explosion - das war ein Gefühl, als ob du beim Kicken den Ball ohne Vorwarnung mit Vollspann mitten ins Gesicht
gezimmert kriegst. Ich hatte auch diesen ledrigen Geschmack im Mund. Die Wucht der Detonation schleuderte den Bus fast hundert Meter weit. Mein Kopf knallte zurück und schoss wieder vor. Wie ein Flummy. Die Glassplitter meiner Sonnenbrille bohrten sich in Augen und Stirn, ein Augenlid riss ab. Das Trommelfell zerfetzte, die Nase spaltete sich. Ich hörte Angstschreie, Schmerzensschreie, Todesschreie. Ich konnte nichts sehen, nichts hören, nichts riechen. Mein Körper schaltete auf Selbstschutz und Überlebensmodus. Nein, das hier ist nicht dein Ende, hier krepierst du nicht, dachte ich nur. Gleichzeitig sah ich - und wusste sofort: Dies ist ein klares Alarmsignal! - Bilder von meiner Frau und meiner kleinen Tochter an meinem inneren Auge vorüberziehen.
Zwar verspürte ich keinen Schmerz, bemerkte jedoch, dass mir etwas Warmes über mein Gesicht lief, das ansonsten völlig taub war. Bibbernd und betend tastete ich mich ab. Gesicht, Arme, Beine, Füße. War noch alles dran. Verzweifelt ballte ich die Faust und sagte mir: "Ich komm hier raus, ich werde hier draußen nicht verrecken, ich werde weiterleben!" Mein nächster Gedanke: Okay, heute nach Hause zu fliegen, das wird wohl nix. Der Gedanke danach: Ich muss meinem Kumpel, mit dem ich zum Pfingst-Frühschoppen verabredet war, unbedingt absagen. Das war absurd: Ich sah den Biergarten und meinen Kumpel ganz deutlich vor mir. Ich hörte sogar Vögel in der Kastanie über uns.
Plötzlich packten mich Hände und zerrten mich aus dem Bus. Ich wurde an einen kalten Betonpfeiler gelehnt. Aber die Luft, die ich draußen atmete, reichte irgendwie nicht. Ich konnte den
6
Sauerstoff zwar einatmen, aber er kam nicht bis zur Lunge. Das war ein Gefühl, als ob man in eine Plastiktüte atmet. Ich konnte noch immer nichts sehen, nichts sagen oder fragen, fühlte aber, dass jemand neben mir kniete. Keine Ahnung, ob er Freund oder Feind war. Plötzlich drückte er mir etwas ins Gesicht. Jetzt war ich sicher: Der Typ ist einer der Attentäter, jetzt bringt er es zu Ende, jetzt bringt er mich um! Ich schlug um mich, wehrte mich, bis ich das deutsche Wort Sauerstoffmaske aufschnappte. Ich wurde ruhiger, ließ die Dinge geschehen und sog die Luft tief ein. Aufatmen. Auf dem Flug in einem Sanitäts-Flugzeug nach Stuttgart habe ich erst erfahren: Vier Kameraden sind gestorben bei diesem Attentat. Sie alle saßen vorn rechts im Bus. Da, wo ich eigentlich sitzen wollte. Es war das erste Mal, dass deutsche Bundeswehrsoldaten im Ausland durch einen feindlichen Angriff starben.
Mittlerweile bin ich aus dem Dienst ausgeschieden. Ich habe durch die Medikamente 20 Kilo zugenommen und einen Operationsmarathon hinter mir. 58 Wochen lang war ich in verschiedenen Krankenhäusern, in Ulm, Hamburg, Berlin. Und ich werde wohl noch sehr lange Stammgast in Schmerztherapiekliniken bleiben. Noch immer leide ich unter posttraumatischen Störungen, Panikattacken, Schlafstörungen und Depressionen. Und ich kämpfe mit den Behörden um die Anerkennung meiner Vollinvalidität - denn die haben mir nur 50 Prozent Erwerbsminderung zugestanden. Ein Bundeswehrarzt hat mal zu mir gesagt, dass sich mein Unterbewusstsein noch immer im Krieg in Afghanistan befindet. Er hat leider recht.
ZORAN DJORDJIC, 42, HANDBALLER
KOMA-CRASH BEIM HANDBALL
Seit 24 Jahren bin ich Leistungssportler, habe 128 Spiele im Tor der jugoslawischen Nationalmannschaft bestritten und war mehrmals Medaillengewinner bei Welt-und Europameisterschaften. Seit elf Jahren spiele ich in der deutschen Handball Bundesliga. Ich bin ein Keeper, der sich auf Tempogegenstöße spezialisiert hat. Das heißt, ich lauere darauf, wenn der Gegner unseren Angriff abfängt und mit einem weiten Pass einen Konter einleitet. Dann rausche ich dazwischen. Es kommt darauf an, vor dem anstürmenden Angreifer am Ball zu sein und sich zudem von ihm nicht über den Haufen rennen zu lassen. Meine Quote im Abfangen von Tempogegenstößen lag an guten Tagen bei 40 bis 50 Prozent. Das ist Weltklasse.
Vor wenigen Monaten aber, im Spätherbst meiner Karriere, hat sich von einer Sekunde auf die andere alles verändert: Am 6. September 2008 hatte meine Mannschaft, HSG Wetzlar, ein Heimspiel gegen die Reinickendorfer Füchse aus Berlin. Es war die 13. Minute, wir hatten einen schlechten Start, lagen 4 : 8 hinten. Der gegnerische Torhüter schnappte sich den Ball - Tempogegenstoß.
Doch an diesem Tag ging alles schief. Der Film in meinem Kopf lief viel zu langsam, ich fühlte mich mental wie körperlich nicht frisch. Der Stürmer und ich prallten mit voller Wucht zusammen. Mein Hinterkopf krachte aufs Parkett. Ich fiel in ein
7
schwarzes Loch. Totaler Blackout. Später habe ich die Fernsehbilder gesehen: Der dumpfe Knall des Aufpralls war noch in der hintersten Ecke zu hören. Die Zuschauer schrien auf. Der Angreifer der Berliner lag zwar in einer Blutlache, hatte aber nur eine Platzwunde abbekommen. Mannschaftsärzte stürmten aufs Feld. Mein Sohn, ebenfalls im Wetzlarer Team, sprang in Panik von der Bank auf. Ich lag da auf dem Rücken, die Augenlider flimmerten, die Beine zitterten. Jeder sah: Dies war mein Todeskampf. Ich krampfte und atmete nicht. Doch mein Mannschaftsarzt blieb cool und peilte gerade noch rechtzeitig die Lage: Ich hatte meine Zunge verschluckt und war drauf und dran, live vor 4000 Fans zu ersticken. Mein Teamarzt war es, der mir die Zunge aus dem Hals zog.
Durch Riechsalz erwachte ich nach 15 Minuten wieder und wurde ins Krankenhaus gebracht. So richtig zu mir kam ich erst zwei Stunden nach dem Unfall, als der Arzt mich am Kopf nähte. Erst da setzte die Erinnerung wieder ein. Die zwei Stunden davor sind verschwunden.
Seit dem Unfall habe ich erst ein Spiel bestritten und mir dabei gleich einen Bänderriss zugezogen. Aber auch in den paar Minuten, die ich spielte, merkte ich, dass ich blockiert und gehemmt war. Ich denke, meine Zeit als Handballkeeper auf höchstem Niveau ist vorbei. Aber nach all den guten Jahren hätte ich mir wirklich einweniger dramatisches Ende gewünscht.
UDO BAUCH, 41, BETRIEBSWIRT
ZUGUNGLÜCK IN ESCHEDE
Eigentlich wollte ich mit dem Auto und gar nicht mit dem ICE zur Tagung nach Hamburg fahren, entschied mich aber doch dafür, weil ich im Zug noch in Ruhe an einer Rede feilen konnte. Ich buchte erste Klasse, hatte das Abteil für mich allein. Die Wagen der ersten Klasse befanden sich ganz am Ende des ICE 884 "Wilhelm Conrad Röntgen". Um 10:59, kurz vor Eschede, gab es plötzlich einen Schlag. Es war das grausamste Geräusch, das ich je vernommen hatte. Ein brachialer Knall. Ein Urknall. Zusammenstoß, dachte ich noch. In diesem Moment bin ich wie ein Dummy auf die gegenüberliegende Seite geprallt und wieder zurück. Teile der Sitze und Abteilverkleidungen prasselten auf mich nieder. In diesen Momenten - vom Aufprall des ICE auf die Brücke bis zum Stillstand vergingen genau 3,6 Sekunden - ging mir der berühmte Lebensfilm, der abläuft, wenn das Ende nahe ist, durch den Kopf. Mit Gedanken und Bildern aus meiner Kindheit, prägnanten Erlebnissen der vergangenen Jahre. Ich habe auch den Tunnel mit dem weißen Licht am Ende gesehen. Ich war ganz ruhig und war mir sicher: Jetzt sterbe ich. Es herrschte tatsächlich Totenstille. Doch ich spürte, ich war noch nicht weg. Vielleicht bleiben mir noch drei, vier Atemzüge, dachte ich. In Gedanken war ich bei meiner Familie. Aber der Tod schritt an mir vorüber, er streifte mich nur mit seinem Mantel.
Außer meinen Augen konnte ich nichts bewegen, hatte starke Blutungen, mein Körper war ein stechender,
8
brennender Schmerz. Ich war der Schwerstverletzte unter allen Schwerverletzten: Hirnblutung, doppelter Schädelbruch, vierfacher Kieferbruch, gebrochener Mittelgesichtsknochen, Oberschenkelbruch, Schienbeinbruch, Milzriss, einige weitere Risse und Quetschungen dritten Grades. Zehn Minuten lag ich betend und wimmernd da. "Hallo, hallo, meine Name ist Udo Bauch, bitte helfen Sie mir!", flehte ich, obwohl ich niemanden sah. Ich wusste, ich brauche sehr schnell medizinische Hilfe. Ich rechnete jeden Moment damit, dass mein Herz zu schlagen aufhört, mein Blut nicht mehr ausreicht, mein Hirn sich verabschiedet. Nach zehn Minuten tauchte ein Polizist auf und versprach, Hilfe zu holen. Nach fast einer Stunde war sie endlich da. "Sie schaffen es", sagte jemand. Dann bekam ich Schmerzmittel. Die führten zu sofortigem Atemstillstand. Ich sah einen roten Samtvorhang, der sich ganz langsam zuzog. Wie nach dem Abspann im Kino. Ich trat wiederholt - völlig ruhig und in dem guten Wissen, dass meine Familie durch diverse Versicherungen abgesichert ist - die Reise ins Jenseits an. Doch ich wurde reanimiert und noch am Unfallort ins künstliche Koma versetzt. Als Komapatient habe ich ein paar Dinge durchaus mitbekommen: dass mein Vater meine Hand gehalten und gesagt hat, er gibt mir ganz viel Kraft. Auch die Lungenspülungen sind mir in Erinnerung. 17 Tage lag ich im Koma. Und erst nach 27 Tagen auf der Intensivstation war ich über den Berg. Ich war schon vor dem Unfall ein gläubiger Mensch, heute kann meinen Glauben nichts mehr erschüttern. Ich bin halbseitig gelähmt, kann gehen, aber nicht mehr arbeiten. Doch ich führe ein - den Umständen entsprechend -
glückliches Leben nach dem Tod. Im Dezember bin ich zum vierten Mal Vater geworden.