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Kinder an die Macht - Selbstversuch einer Familie / Die Welt (eine Seite) / 2011

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Kinder an die Macht - Selbstversuch einer Familie
Was passiert, wenn der Nachwuchs das Kommando übernimmt? Der Kühlschrank ist oft leer, das Haushaltsgeld reicht nicht aus, doch die Metzgers wachsen zusammen wie nie
Foto: Jens Palme
Es ist ein ebenso spannendes wie in dieser Form einzigartiges Experiment, das die Welt in der Familie Metzger von einem auf den anderen Tag auf den Kopf stellte. Für einen Monat vertauschten Eltern und Kinder miteinander die Rollen - und zwar mit allen Konsequenzen. Die Idee stammte von Vater Jochen Metzger (42), einem Journalisten. Mutter Helga Metzger, von Beruf Physiotherapeutin, fand sie gut. Auch Tochter Lara (13) gab sofort ihr Okay für den Familienversuch. Nur Jonny, der mit zehn Jahren gewissermaßen Vater wurde, war zunächst skeptisch. Doch dann kam er ins Grübeln: „Ich darf dann einfach alles“, sagte er sich. „Ich bin der dicke große Boss“, hoffte er und machte freudig mit. An einem festgesetzten Tag, Schlag Mitternacht wurden aus den Kindern die Eltern und aus den Eltern die Kinder. Vater Jochen Metzger übernahm die Aufgabe, ein Buch über die ungewöhnliche Familienerfahrung zu schreiben. Es heißt „Alle Macht den Kindern. Ein Selbstversuch“
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und erscheint Anfang Oktober in der Patmos Verlagsgruppe (16,90 Euro, 180 Seiten).
Von außen betrachtet sind die Metzgers eine ganz normale deutsche Durchschnittsfamilie. „Wir erziehen unsere Kinder keineswegs antiautoritär, eher mit recht konservativer Strenge“, sagt Jochen Metzger. „Fernsehen und Computer gibt es im Normalfall nur in kleinen Dosen. Wir achten mit Argusaugen drauf, was die Kinder konsumieren.“ Das Leben läuft rund bei den Metzgers. Jonny und Lara gehen ins Gymnasium. Zu den Mahlzeiten versammelt sich die Familie, der Umgangston ist respektvoll und nett. Ihr zweistöckiges Eigenheim liegt im Hamburger Umland an einem Waldrand. Jedes Kind hat sein eigenes Zimmer. Eine Familienkutsche steht in Carport, der Garten ist gepflegt. Einen Steinwurf vom Haus entfernt plätschert ein Bach durchs Naturschutzgebiet. Ab und an braust ein Zug vorbei. Friedliche Vorstadtidylle.
Bevor das Experiment begann, stellte die Familie zehn Regeln auf: Die Kinder bekamen das ganze Haushaltsgeld ausgehändigt, 700 Euro. Damit mussten sie wirtschaften und vor allem hinkommen. Um nicht in Versuchung zu geraten und das Experiment möglichst realitätsnah zu gestalten, gaben die Eltern ihre EC- und Kreditkarten bei Freunden ab und behielten für sich nur jeweils 40 Euro Taschengeld. Die Kinder waren ohne Einschränkungen die absoluten Bestimmer, die Eltern hatten zu gehorchen. Kein Schmu, keine Kompromisse. Und „keine Rache!“, so lautete Regel Nummer vier. „Niemand darf sich nach dem Experiment für das rächen,
was während des Experiments vorgefallen ist. Wir wollen für einen Monat so tun, als wäre die Welt ganz anders, als sie ist.“ Nur bei echter Gefahr für Leib und Leben sollte der Versuch abgebrochen werden.
Als Vater auf Zeit sicherte sich Jonny als Erstes die alleinige Hoheit über die Fernbedienung. Er machte es sich oft und für die wirklichen Eltern nervenzermürbend lange im Fernsehsessel bequem, Vater und Mutter brachten ihm brav Chips und Cola. Wenn Jonny genug geglotzt hatte, verlegte er sich gerne und mit Ausdauer aufs Zocken am PC. „Ich habe mir gedacht, so eine Chance bekomme ich nie wieder. Keiner macht mir Vorschriften, diese Freiheit musst du unbedingt ausnutzen“, erinnert sich Jonny. „Wenn ich Lust auf etwas hatte, konnte ich es einfach tun. Ich wäre doch doof, wenn ich das nicht ausgenutzt hätte.“ Und das hat er reichlich getan. Jonny hat im Supermarkt eine ganze Einkaufstüte voller Red Bull gekauft. Geld war am Anfang des Familienexperiments ja noch reichlich vorhanden. 700 Euro, für Jonny war das „mächtig viel Money“. Einmal hat er all seine Freunde aus der Nachbarschaft eingeladen. Gemeinsam haben sie den ganzen Eisvorrat der Familie verspeist. Und dann der Mutter aufgetragen, sie solle neues kaufen und bei der Gelegenheit auch für weiteren Nachschub an Knabberkram und Süßigkeiten sorgen. „Sie hat es gemacht und auf mich gehört“, sagt Jonny mit glänzenden Augen. „Zuerst war ich ja manchmal noch misstrauisch, doch es hat wirklich keiner gemeckert. Nie. Ich war der Boss. Herrlich war das.“
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Die meiste Zeit war Jonny ein fauler Vater. Einer, der sich um wirklich gar nichts kümmerte. Er nutzte auch gleich die Gelegenheit und schwänzte ein paar Mal die Schule. Bei einem Sportausflug, den er mit Jochen unternahm, vergaß er, Geld mitzunehmen. So mussten Jonny und Jochen einen ganzen Tag ohne Essen und Trinken auskommen. Am Ende des Experiments war Jonny nur noch dafür verantwortlich, dass immer genügend Brot im Haus war. War es aber meistens nicht. Eine X-Box und eine Wii hätte er sich am liebsten als Familienboss noch gekauft, sagt er rückblickend. Doch dafür reichte das Geld ja nicht. „Heute denke ich nur noch selten, es wäre ganz schön, der Boss zu sein“, sagt Jonny. „Aber im Grunde bin ich froh, dass Ma und Pa wieder das Kommando haben.“
Jonny, glaubt sein Vater Jochen, habe sich durch das Experiment verändert, sei als Persönlichkeit stärker geworden. „In gewissem Sinne könnte man sagen: Jonny ist ein bisschen erwachsener geworden“, bilanziert Metzger.
Jonnys Schwester Lara schnappte sich in ihrer Rolle als Familienmutter als Erstes Stift und Zettel und erstellte Einkaufs- und Essenspläne. Sie managte das Familienleben, verwaltete die Haushaltskasse. Sie machte klare Ansagen, was Helga und Jochen zu erledigen hatten, und ärgerte sich darüber, dass von Jonny so wenig Unterstützung kam. „Mit so einem faulen Kerl möchte ich später nicht verheiratet sein“, sagt sie lächelnd. Unter Laras Regie lag die schmutzige Wäsche nicht lange im Waschkeller herum, wurden die leeren Gläser und Teller vom Wohnzimmer-Couchtisch
nach dem Familien-Fernsehabend immer fix abgeräumt und im Supermarkt keine Lebensmittel mehr gekauft, die sowieso keiner isst. All das störe sie schon lange, deshalb habe sie das in ihrer neuen Chefrolle auch gleich geändert, indem sie ihrer Mama klare Ansagen in Sachen Hausputz und Einkauf gab. Aber sie packte auch selber mit an. Sie machte ihre Sache gut, doch auch sie kam an einigen Morgen einfach nicht aus dem Bett und ließ die Schule ausfallen. „Es war für mich nicht einfach, Familie und Schule immer unter einen Hut zu bekommen. Das war ein harter Doppeljob, den ich in diesem Monat zu bewältigen hatte“, sagt Lara resümierend. „Es ist ganz gut, dass ich noch ein bisschen Kind sein darf.“
Und ihre Mutter meint stolz: „Um meine Tochter mache ich mir nach dem Experiment nun gar keine Sorgen mehr. Ich glaube sogar, sie wird später ihre Familie klüger managen und den Haushalt besser schmeißen, als ich es tue.“
Am Ende des Experiments wurde das Geld richtig knapp. Lara kamen sogar die Tränen, als ihr Bruder nicht mitmachte und ihr die Verantwortung über den Kopf wuchs. Vater Jochen Metzger glaubt, dass ihre Pubertät durch das Experiment vielleicht etwas sanfter verlaufen wird. Die meisten Kinder wollten ganz schnell groß sein. „Lara sieht das heute ein wenig anders. Sie war nämlich schon einmal ganz groß. Es hat Spaß gemacht - aber weniger Spaß als erwartet. Jetzt genießt sie es, wieder Eltern zu haben“, sagt Metzger.
Nach vier Wochen waren alle heilfroh, wieder ihre angestammten Rollen einnehmen zu können.
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Aber gebracht hat das Familienexperiment allen etwas. Sie sind noch näher zusammengerückt und haben sich noch besser kennengelernt. Da sind sich die Metzgers einig.
Vater Jochen Metzger hat dazu noch seine ganz eigene Lehre gezogen: „Ich habe gelernt, dass die Kinder das allermeiste ohne mich geregelt kriegen. In vielen Situationen bin ich als Besserwisser und Ratgeber vollkommen überflüssig. Das heißt für mich: loslassen, Klappe halten.“ Die Kinder schafften viel allein. Aber jeden Tag „Alle Macht den Kindern“ spielen? „Sorry! Ohne mich!“, sagt der 42-Jährige. Er wird zum Beispiel weiter den Fernsehkonsum der Kinder überwachen und beschränken, kontrollieren, wie lange die Kinder am Computer sitzen - und im geeigneten Moment den Stecker ziehen, wenn die Kinder es nicht von sich aus tun.
Am Ende überdauert für Metzger die wichtigste Erkenntnis: „Wenn alle Regeln, Verbote und Erziehungsstile vergessen sind, bleibt etwas Größeres, das uns durch alle Schwierigkeiten hindurch trägt. Nämlich die Liebe zwischen Eltern und Kindern. Klingt pathetisch. Ist aber wahr“, sagt er. „Während unseres Experiments gab es ein paar Augenblicke, in denen mir das wieder klar geworden ist. Es waren die besten, die ich während dieser Zeit erlebt habe.“