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Kommissar 100 Prozent / Hamburger Abendblatt (eine Seite) / 2011

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Kommissar 100 Prozent
Ingo Thiel war Chef der Sonderkommission im Mordfall Mirco. 145 Tage lang bewegte das Schicksal des zehnjährigen Jungen die Republik. Dann hatte Thiel den Täter. Am Dienstag beginnt der Prozess
Fotos: David Klammer
Bei Ingo Thiel dreht sich verdächtig viel um die Jagd. Als Chef der Mönchengladbacher Mordkommission jagt er Mörder und Totschläger. An freien Tagen pirscht er gerne, Flinte über der Schulter, Jagdhund an der Seite, durch Wälder und über Felder.
Er sei sich seiner Sache - „den Schwerverbrecher zu schnappen“ (oder das Wildschwein zu erlegen), meist ziemlich sicher. Er könne warten, Fallen stellen, Köder auslegen und gehe oft auch eigene Wege, sagt er. Das habe ihm zwar im Kollegenkreis den Ruf eines Terriers und Beißers eingebracht, doch es mache ihn auch zum erfolgreichen Jäger. Im Dienst. Und nach Feierabend.
Seit 20 Jahren arbeitet Ingo Thiel, 48, zwei Kinder, geschieden und gerade wieder frisch verheiratet, bei der Mordkommission in Mönchengladbach. Seit zwölf Jahren leitet er sie. Wie viele Mordfälle hat er bereits bearbeitet? Der Hauptkommissar nimmt einen Zug aus der Zigarette. Die Finger der linken Hand
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umschließen das Glas Alsterwasser, die Mundwinkel zucken. „Irre viele“, sagt er, guckt erst nachdenklich, dann traurig und bläst den Qualm aus. „Viel zu viele.“
Aber jeden Mordfall, den er von Anfang an in Eigenregie bearbeiten konnte, habe er lösen können. Aufklärungsquote 100 Prozent: „Der Täter landet bei mir immer im Gefängnis. Vorher gebe ich keine Ruhe.“
Ingo Thiels letzter Fall war ein Kindermord. So ein Fall sei für ihn immer der „Super-GAU“, so sagt er das. Dieser wühle ihn immer noch auf, mache ihn wütend. „Ich hatte mich mit dem vermissten Jungen über Monate intensiv beschäftigt, wusste fast alles von ihm. Er gehörte quasi zur Familie, war mir richtig ans Herz gewachsen. Und bei seiner Beerdigung war es so, als sei mein eigener Sohn gestorben. Ich habe einen, etwa im gleichen Alter.“
Ingo Thiel hat mit seinen Ermittlern von der Sonderkommission (Soko) den Mordfall Mirco gelöst. Der Fall hat ihn weit über die Grenzen Nordrhein-Westfalens bekannt gemacht, sogar ein bisschen berühmt. Gut 1000 Glückwunsch-E-Mails erreichten den Hauptkommissar in den vergangenen Monaten. Den weitesten Weg hatte die von einem deutschen Polizisten aus Kabul. Ein anderer Mann schrieb, er habe seinen Söhnen verboten, künftig das Wort „Bulle“ für Polizisten zu benutzen. Ein Ärzteehepaar beteuerte, es werde sich nie wieder über Steuerbescheide beschweren, denn von Steuergeldern wurde ja auch die Soko „Mirco“ bezahlt. Kürzlich wurde Ingo Thiel bei einem Sting-Konzert in Mönchengladbach erkannt und beglückwünscht.
Er hat ein paar Fernseh- und Magazinauftritte hinter sich, sondiert gerade weitere Talkshow-Einladungen. Bettina Böttinger vom WDR hat er zugesagt. Im Dezember wird er in Thomas Gottschalks Jahresrückblick „Menschen 2011“ im ZDF zu sehen sein.
Am 3. September 2010 passierte in dem kleinen Ort Grefrath in NordrheinWestfalen das, was für Eltern das Schlimmste ist: Das Kind kommt nicht nach Hause. Es ist weg. Später stellt sich heraus, es wurde missbraucht und ermordet.
Als der Vater den Computer ausstellte, dachte er, Mirco schlafe schon
Als Ingo Thiel den Fall übernimmt, ist der zehnjährige Mirco schon fast 24 Stunden verschwunden. Der Schüler war am Abend zuvor - im Fernsehen lief das EMQualifikationsspiel Belgien gegen Deutschland - mit dem Fahrrad unterwegs. Bei einem Kumpel. Dann an der Skaterbahn in der Nachbarortschaft mit dem tristen Namen Oedt, vier Kilometer vom Elternhaus entfernt. Als es dunkel wurde, machte der Junge sich auf den Weg nach Hause. Zeugen haben ihn an einer Bushaltestelle vorüberradeln sehen. Mircos Mutter wartete das Eintreffen des Sohns nicht mehr ab. Sie war müde, ging früh zu Bett. Der Vater saß im Arbeitszimmer des Hauses der Familie am Computer. Das Haus hat mehrere Eingänge. Als der Vater den Computer ausstellte, dachte er, Mirco schlafe schon. Doch vermutlich war er da bereits tot.
Der mutmaßliche Täter Olaf H., 45, ein Familienvater mit schütterem Haar und blasser Haut aus Schwalmtal, 17 Kilometer
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von Grefrath entfernt, Außendienstmitarbeiter der Telekom, hatte dem blonden Jungen nur wenige Hundert Meter von seinem Elternhaus entfernt an einem Waldweg aufgelauert. Er hat ihn vom Fahrrad geschubst und in seinen Wagen gezwungen. Ingo Thiel glaubt, dass Olaf H. an diesem Abend auf der Suche nach einem wehrlosen Opfer - „bei dem er sich endlich mal als der Stärkere fühlen konnte“ - mehrere Stunden lang durch die Gegend gefahren ist. Dass gerade Mirco sein Opfer wurde, sei nur Zufall gewesen. „Der Junge war zur falschen Zeit am falschen Ort“, sagt Thiel kopfschüttelnd. Seine Kiefer malmen. Die dunklen Augen wirken finster.
In seinem Geständnis beim Polizeiverhör sagte Olaf H., der die Fahnder nach seiner Festnahme Ende Januar 2011 zum Leichnam wenige Kilometer außerhalb des von der Soko festgelegten Suchgebiets führte, er habe Mirco mit einer Schnur stranguliert. Um sicherzugehen, dass Mirco wirklich nicht überlebt, habe er ihm noch ein Messer in den Hals gerammt. Nachdem er ihn entkleidet in einem Waldstück abgelegt habe, sei er nach Hause zu Frau und Kindern gefahren. Die Sachen des Jungen habe er unterwegs aus dem Auto geworfen. Als Motiv für den Mord vermutet die Staatsanwaltschaft Wut über eine ausgebliebene Erektion. Zudem habe der Angeklagte Mirco wohl aus Angst vor seiner Entdeckung getötet.
Als Hauptkommissar Thiel am späten Abend des 4. September den Fall übernahm, hatte er gleich ein „schlechtes Gefühl“, erinnert er sich. Die Chance, dass der Junge seinen elften Geburtstag in zwei Wochen noch erleben würde, sei aus seiner Sicht minimal gewesen.
Thiel stellte die Soko zusammen. Er forderte doppelt so viele Spezialisten an wie sonst üblich. 64 Beamte, sieben davon Frauen, arbeiteten rund um die Uhr. Die größte und vermutlich auch teuerste Personensuche in der Geschichte der Bundesrepublik lief an: 9000 Hinweise gingen bei der Soko ein, 20 000 Seiten wurden beschrieben, 1000 Beamte durchkämmten das 50 Quadratkilometer große Suchgebiet, Tornado-Aufklärungsflugzeuge der Bundeswehr, auch eine Flugdrohne und mobile Röntgengeräte wurde eingesetzt. „Kein Vorgesetzter, Politiker oder Haushaltsausschuss fragte bis heute nach den Kosten der Fahndung“, erklärt Ingo Thiel. „Mirco und sein Mörder mussten gefunden werden. Nur das zählte.“ Jeder Soko-Mitarbeiter häufte Hunderte Überstunden an. Auch Weihnachten und an Geburtstagen wurde gearbeitet.
Als die letzte Hoffnung auf ein Lebenszeichen von Mirco schwand, versprach der Hauptkommissar den Eltern, dass er den Mörder finden wird. „Ich habe uns damit ganz gehörig unter Druck gesetzt, aber am Erfolg der Fahndung hatte ich tatsächlich nie gezweifelt“, sagt er. Seiner Lebensgefährtin Uta, 48, Krankenschwester in der Notaufnahme, versprach er, dass er sie heiraten werde, wenn er den Täter hat.
Was Ingo Thiel damals noch nicht ahnte: Olaf H. war fast sein Nachbar in der Gemeinde Schwalmtal, der Täter lebte im Ortsteil Ungerath, zusammen mit Frau und drei Kindern, das jüngste gerade zwei Jahre alt. Gerade drei Kilometer entfernt wohnt Hauptkommissar Ingo Thiel, im Ortsteil Hehler.
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Die Ermittler weinten vor Freude, als sie den Fall gelöst hatten
Ein Zeuge beobachtete in der Tatnacht einen verdächtigen Pkw. Einen dunklen Passat. Die Beobachtung war der entscheidende Hinweis, der zur Ergreifung des Täters führte. Mircos grünes Mountainbike wurde schnell gefunden, ebenso seine graue Jogginghose und sein bedrucktes Poloshirt. Die DNAund die Faserspuren, die der Molekularbiologe Harald Schneider und Kriminaltechniker an Mircos Kleidung fanden, führte die Soko am 26. Januar 2011, nach 145 Tagen Fahndung zum Täter. „Die DNA an Mircos Kleidung konnten wir Olaf H. zuordnen“, erklärt Thiel. „Doch das alleine reichte mir noch nicht für die Verhaftung. Erst als wir wussten, dass auch die Faserreste an Mircos Kleidung von der Sitzgarnitur seines Passats stammten, den er zwischenzeitlich ins Ausland verkauft hatte, waren wir sicher: Wir haben den Mörder.“ In den Räumen der Soko schämten sich die Fahnder ihrer Freudentränen nicht, erinnert sich Thiel. Er selbst weinte auch und warf vor lauter Erleichterung sein Handy an die Wand. Mit 15 Kästen Bier feierten die Fahnder den Erfolg.
Hätte die Soko nur die DNA des Mannes oder nur die Faserspuren aus Olaf H.s Wagen nachweisen können, würde das nicht reichen, ihn für lange Zeit hinter Schloss und Riegel zu bringen, sagt Ingo Thiel: „So aber ist die Beweislage erdrückend. Zudem hat der Täter den Mord an Mirco gestanden.“
Der Soko-Chef hat seine Lebensgefährtin Uta - wie versprochen - Anfang Juni geheiratet. Gefeiert wurde auf einem Bauernhof in Schwalmtal. Die gesamte Soko war da, auch Mircos Eltern.
Olaf H.s Familie ist aus Schwalmtal weggezogen. Im Ort heißt es, die Frau des Kindermörders habe die Scheidung eingereicht. Am 12. Juli beginnt vor dem Krefelder Landgericht der Prozess. Olaf H.s erste Anwältin hat das Mandat niedergelegt. „Jetzt hat er den besten Anwalt der ganzen Gegend“, sagt Ingo Thiel und schneidet sich ein Stück von der Pizza ab. Die Kellnerin bringt das dritte Alsterwasser und leert den Aschenbecher.
Wie hilft ihm bei der Fahndung nach Mördern denn nun, dass er Hobbyjäger ist? Er wiegt den Kopf, kratzt sich am Kinnbart, grinst an diesem Abend das erste Mal fast schelmisch. „Zumindest sind meine Sinne durch die Jagd geschärft und die Instinkte hellwach“, antwortet er. „Aber ich will kein allzu großes Thema, schon gar keine Philosophie draus machen.“
Für den Hauptkommissar ist Olaf H. ein „Feigling, Weichei und Schlappschwanz“. Ein Schwerverbrecher, der für immer hinter schwedische Gardinen gehöre. Er könne sich jedoch gut vorstellen, dass er sich vor Gericht nicht zu seiner Tat bekennt, auf nicht voll schuldfähig macht. Auch, dass er sein Geständnis widerruft. Der Kommissar hofft, dass den Mörder trotzdem eine ähnlich harte und abschreckende Haftstrafe erwartet wie jüngst den Mörder von Bodenfelde: „Lebenslänglich mit zusätzlicher Sicherungsverwahrung.“
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60 Zeugen sind zum Gerichtsprozess vorgeladen, 15 Prozesstage sind anberaumt. Für September wird das Urteil erwartet. Ingo Thiel wird den Prozess aus nächster Nähe beobachten. Wie argumentieren Rechtsund Staatsanwälte? Wie laufen die Zeugenvernehmungen? Was kann er für seinen nächsten Fall lernen? Was kann er in Zukunft noch besser machen, damit der Täter seine gerechte Strafe kriegt?
Bis weit in den Mai hinein hat die Soko „Mirco“ noch ein umfassendes Bewegungsprofil von Olaf H. erstellt. 500 Megabyte haben die Ermittler zusammengetragen und protokolliert, wo Mircos Mörder wann war. Als Außendienstler kam Olaf H. im ganzen Bundesgebiet und in Holland herum. Urlaube führten ihn gen Süden, an die Nordund Ostsee. Es gibt viele vermisste Jugendliche und Mordfälle an Kindern, die bis heute nicht aufgeklärt sind. Der Chef der Mönchengladbacher Mordkommission sagt, dass seine Jagd auf Olaf H. noch lange nicht beendet ist. Ingo Thiel glaubt nicht, dass Mirco aus Grefrath dessen einziges Opfer war.