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Die Schöne ist ein Biest / Lufthansa Exclusive (8 Seiten) / 2013

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Die Schöne ist ein Biest
Die Carrera Panamericana ist die schillernste und schnellste Oldtimer-Straßenrallye der Welt. Am Steuer der schönen Schlitten, die 3100 Kilometer durch Mexiko rasen: Abenteurer, Bleifüße und ewige Jungs, die es auf der Suche nach dem alten Rennsportgeist noch mal richtig wissen wollen
Fotos: David Klammer
Die Pfützen kräuseln sich. Als sei etwas sehr Großes in Anmarsch. Ein bisschen wie in Steven Spielbergs „Jurassic Park“, kurz bevor der Tyrannosaurus Rex aus dem Dschungel kommt. Doch das hier ist kein Kino. Es ist das größte Abenteuer, das man mit dem Auto erleben kann. Tausende Pferdestärken bewegen sich durch die Straßen der Hafenstadt Veracruz am Golf von Mexiko. 113 Autos rollen an den Start. Die jüngsten sind Baujahr 1974, die ältesten aus den 1940er Jahren. Am Steuer: 112 Männer, die meisten erfahrene Rennfahrer wie der deutsche Ex-Formel-1-Pilot Jochen Mass und McLarens langjähriger Teammanager Jo Ramírez, und eine Frau.
Dies ist das schnellste, vielleicht auch verrückteste Oldtimer-Straßenrennen der Welt: La Carrera Panamericana. Nach ihr wurden Sportwagen (Porsche), Luxusuhren (Tag Heuer) und Jugendzimmer-Rennbahnen benannt. Sie ist das Traumziel der überzeugten Racers, sie ist
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das Highlight vieler Rennfahrer-Karrieren. Diese Einschätung teilen alle nach Veracruz gereisten Motorsport-Enthusiasten. „Nürburgring, Le Mans, Mille Miglia, Goodwood Speed Race – bin ich alles gefahren, alles okay“, sagt Gerald Brandstetter, 73, „aber nichts gegen das hier. Das Rennen durch Mexiko ist die Königin der Rallyes.“ Der Österreicher lehnt an einem mattschwarzen Wagen, der etwa eine Million Euro wert und selbst schon Legende ist: Ein Mercedes 300 SL Flügeltürer, Baujahr 1954, für die Rennstrecke modifiziert. 3,5 Liter Hubraum, 300 PS, modernes Fahrwerk, Brembo-Bremsen. Brandstetter hat den Flügelflitzer für die Carrera-Woche von der bayerischen 300-SL-Edelmanufaktur HK-Engineering gemietet. Für etwa 100 000 Euro. „Verschiffung, sechsköpfiges Serviceteam, Ersatzteile und Startgebühr inklusive“, sagt der pensionierte Oberarzt. Er und sein Kopilot Erich Ölschlaegel, 67, Besitzer einer Parfümeriekette, erfüllen sich ihren Lebenstraum: „Einmal die Carrera fahren. Sagen können, ich habe das Biest gebändigt“, erklärt Erich Ölschlaegel sein Motiv.
Tieffliegender Geier und berühmte Racer
1950 wurde die Rallye das erste Mal gestartet. Am Steuer damals: Rennsportidole wie Hans Herrmann, John Fitch, Weltmeister Juan Manuel Fangio. In den Anfangsjahren war die Carrera ein Kräftemessen für Neuwagen. Ferrari, Lancia, Oldsmobile gewannen, Porsche fuhr vorne mit. 1952 landete Mercedes einen sensationellen Doppelsieg – mit dem 300 SL. Das Gewinnerteam bildeten Karl Kling und Hans Klenk. Trotz Geiereinschlags durch die Frontscheibe,
der beim Kopiloten Klenk zu kurzer Ohnmacht führte, fuhren die Deutschen nach über 3000 Kilometern als Erste über die Ziellinie und setzten einen echten Meilenstein in der Mercedes-Rennsportgeschichte.
Wegen sich häufender Unfälle wurde die Carrera 1955 – zwei Jahre zuvor hatte sie gerade Sportwagen-WM-Status erreicht – wieder eingestellt. 1988 dann die Renaissance als Oldtimer-Rallye, die an alte Reglements und Traditionen anknüpft. Pink-Floyd-Gitarrist David Gilmour und -Schlagzeuger Nick Mason fuhren mit, komponierten sogar eigens Songs für die Tour, etwa „Pan Am Shuffle“ und „Carrera Slow Blues“.
Die Rallye gehöre zu Mexikos nationaler Identität, fast wie Tequila oder der Sombrero, meint Eduardo León Camargo, der den Mythos vor gut 25 Jahren neu belebt hat. „Die Carrera hat nichts Braves oder Biederes, wie es typisch ist für die meisten Oldtimer-Veranstaltungen“, sagt der Mexikaner, der zuweilen „Panamericana-Pate“ genannt wird. „Gewiss, das Rennen ist nicht gerade umweltverträglich, es ist sogar ziemlich gefährlich – doch gerade darin sehen viele Teilnehmer den besonderen Reiz der Panamericana.“ Camargos Wort ist Gesetz. Er entscheidet, wer mitfahren darf. Er verteilt persönlich die Carrera-Aufkleber an Journalisten, die im Begleittross der Rallye mitfahren. Wenn die Geier es gut mit ihnen meinen, sogar die ganze Strecke: Sieben Tage, 3100 Kilometer. Von Süden nach Norden. Vom tropischen Veracruz über die Zwischenstopps Oaxaca, Puebla, Querétaro, Morelia, Guanajuato und San Luis Potosí bis in die alte Silberstadt Zacatecas.
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Durch Wüste und Dschungel, Prärie und Hochgebirge, bei Temperaturgefällen zwischen Biosauna und Kühlschrank.
Viele Fahrer führen auch abseits der Piste ein rasantes Leben. Sie besitzen Unternehmen, Jachten, Villen, sie verfügen über große Fuhrparks, Geld ist meist nicht das Problem. Bei der Carrera hoffen sie darauf, das wahre Leben hautnah zu spüren, das Tempo. An Grenzen stoßen, den täglichen Trott durchbrechen, frei und auch mal ein bisschen verrückt sein. Deshalb, sagen viele, sind sie hier. „Die Carrera ist für mich das, was für einen Bergsteiger der Mount Everest ist“, sagt Gerald Brandstetter. „Mehr geht nicht“, stimmt Copilot Ölschlaegel zu. Stotternde Studebaker (bis 900 PS stark und über 300 km/h schnell), obertourige Oldsmobiles, bollernde Buicks und BMW. Mit dem Geschwindigkeitsgerät man leicht auch in einen Alliterationsrausch: aufbrausende Alfas, dröhnende Datsuns, motzende Mustangs und Mercedes, knatternde Corvetten und Chrysler, prustende Porsche und jaulende Jaguars gehen im Abstand von 30 Sekunden auf die Strecke. Im Cockpit sitzen Nord,- Mittel- und Südamerikaner. Auch etliche Europäer: Schweden, Italiener, Belgier, Niederländer, Engländer, Franzosen, Finnen. Zwölf Teams aus Deutschland gehen an den Start, ein Damenduo aus Mexiko und zehn Kopilotinnen sorgen für Frauenpower.
Distinguierte Herren verwandeln sich in Desperados
Ein zweiter 300 SL fällt auf. Im silbernen, 270 km/h schnellen Flügelflitzer sitzt das brasilianisch-britische
Duo Bernardo Hartogs, 56, und Anton Bilton, 48. Londoner Geschäftsmänner aus der Öl- und Immobilienbranche, die jetzt die Businessanzüge gegen Rennoveralls getauscht haben. Sie sind Hobbypiloten, die viel von der Carrera gehört haben und nun mal mitfahren wollen. Ob sie sich auf das Asphaltabenteuer speziell vorbereitet haben? „Wieso denn?“, fragt Bernardo Hartogs, der schön verschmitzt lächeln kann. „Ich weiß, wo das Gaspedal sitzt.“ Und Anton Bilton, dem Pink-Floyd-Schlagzeuger Nick Mason persönlich die Carrera als ultimatives Fahrabendteuer empfohlen hat, gibt sich ebenfalls betont lässig: „Wir wissen, dass ist ein Vorteil für uns“, hofft er. „Es gibt weder Geld noch Pokale zu gewinnen“, sagt Jochen Maas, „bei der Carrera geht es nur ums Durchkommen.“ Dann verrät er seine Überlebensstrategie, die er fast beschwörend wiederholt: „Sachte rein in die Kurve, flott wieder raus.“ Die Sicherheitsbestimmungen für die Rennautos seien hier die strengsten der Welt, erklärt Panamericana-Chef Eduardo Leon Camargo: „In den Überrollkäfigen stecken 24 Meter Stahlrohr. Bei Rennen in Europa sind nur acht Meter vorgeschrieben. Kopfrückhaltesystem, Vierpunktgurt, Fangnetz: Bei mir ist alles Pflicht.“
Bei den ersten Sonderprüfungen gibt es regelmäßig die meisten Beulen im Bolidenblech – weil viele Fahrer die Carrera anfangs unter- und ihr Fahrvermögen überschätzen. Fünf bis zehn Speed-Etappen gibt es pro Renntag. Doch auch bei den Transferstrecken heizen die Piloten wie bei einer Verfolgungsjagd im Agentenkrimi. Sie fürchten, die nächste Startflagge zu verpassen, das wird mit Strafzeiten geahndet. Die Speed-Strecken sind für den übrigen Verkehr
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gesperrt, die Pisten dorthin nicht. Für die Rennfahrer und den Begleittross aus Feuerwehr- und Rettungswagen, bulligen Dodge-Charger-Polizeiautos, den Minivans der Veranstalter- und Serviceteams sind die Verkehrsregeln außer Kraft gesetzt. Der Carrera-Aufkleber ist während der Rennwoche die geduldete Lizenz zum Rasen.
Traumlandschaften wie in John-Wayne-Western
Mit Rollsplitt versehene Abschnitte, von denen kein Wort im Roadbook steht, atemberaubende Abhänge ohne Leitplanken, Bodenwellen wie Sprungschanzen, Schlaglöcher wie Fallgruben – all das gehört zum Reiz wie zum Risiko der Carrera. Die Strecke führt durch Wildwest-Landschaften wie in John-Wayne-Filmen. Man möchte alle paar Kilometer anhalten, die Canyons, Kakteenwälder und Gebirgsdörfer fotografieren. Doch es bleibt kaum Zeit dafür. Auf einer rutschigen Achterbahnetappe rauschen gleich fünf Wagen hintereinander von der Straße ab. Doch alle Piloten kommen – den Hochsicherheitskäfigen sei Dank – mit Kratzern davon. Ein US-amerikanischer Studebaker nimmt das Rennen tags darauf sogar wieder auf, nachdem die Mechaniker die ganze Nacht geschuftet haben. „Darum geht es uns, die wir vom Rennvirus infiziert sind, doch auch“, erklärt der Studebaker-Kopilot Adrian Gerrit, 32, aus seinem Boliden heraus. „Du kommst vom Weg ab und kämpfst dich wieder rauf. Das ist die Carrera. Sie macht Helden.“
Triumphale Einfahrten in die Etappenzielorte, in denen Straßen und Plätze für die Piloten gesperrt sind, als wär’s ein
Staatsbesuch. Tausende Zuschauer, Volksfeststimmung, vor Begeisterung kreischende Kinder und Jugendliche, die wegen der Rallye schulfrei haben, Musik- und Tanzgruppen, Frauen in knappen Kostümen, die mit den Rennfahrern fürs Foto posieren.
Platzierungen werden zur Nebensache, Ankommen zählt
Die Hobbypiloten Hartogs und Bilton im silbernen 300 SL schalten jetzt öfter mal einen Gang runter. Sie haben die Rallye zu Beginn wohl doch unterschätzt, geben sie zu. Die Lässigkeit von vor ein paar Tagen ist futsch, jetzt haben sie schwarze Ringe unter den Augen. „Ich will noch ins Weltall fliegen und nicht gegen einen Felsen irgendwo in Mexiko“, sagt Bernardo Hartogs. „Für mich ist die Carrera eine Mixtur aus Stresstest und Überlebenstraining“, resümiert Anton Bilton nach 2500 Kilometern. 25 Teams sind da bereits ausgeschieden. Je näher das Ziel in Zacatecas kommt, desto seltener werden die Pannen. Die Hochgeschwindigkeitsetappen haben jetzt auch mal lange Graden, sind nicht mehr so kurven- und gefällereich. Sämtliche Duelle sind ausgefochten, jetzt wollen alle wirklich nur noch ankommen.
Nach fast genau 3100 Kilometern knallen an der Spanischen Kathedrale im Zentrum der Silberstadt einige Dutzend Champagnerkorken, die Emotionen explodieren. Stoßgebete, Freudentänze, überschwängliche Umarmungen, abgekämpfte, doch glückliche Gesichter, wohin man blickt. Der siegreiche Studebaker weist nach 648 Sonderprüfungskilometern einen Schnitt von 140 km/h auf – die Formel 1 in Monte Carlo fährt kaum schneller.
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Fredy Niggeler und Alessandro Forcella lassen mit ihrem Volvo immerhin 13 Konkurrenten hinter sich. Ölschlaegels schwarzer 300 SL siegt in seiner Klasse. Mass ist zehnter der Gesamtwertung. Und auch das brasilianisch-britische Duo im zweiten Flügeltürer schafft es als eines von 84 der 113 gestarteten Teams ins Ziel. Doch Platzierungen und Zeiten sind unter dem funkelnden Sternenhimmel in Zacatecas alter Stierkampfarena, heute Fünf-Sterne-Hotel und Ort der Abschlussparty, wirklich nur Nebensache.