home

Prächtige Beute / Lufthansa Exclusive (7 Seiten) / 2012

1
Prächtige Beute
Wenn irgendwo eine illustrierte Handschrift oder ein mittelalterliches Pergament auftaucht, wird Jörn Günther aktiv. Der Antiquar handelt mit seltenen alten Büchern, darunter oft echte Schätze der Menschheit, die auch mal Millionen wert sind
Fotos: Maurice Haas
Bei Jörn Günther klappt einem das Kinn herunter. Kaum zu fassen, was man sieht. Es ist nicht einmal die Lage seines Anwesens in der Zentralschweiz, hoch über einem malerischen See mit Blick auf eine Landschaft wie in den „Heidi“-Filmen, rauschender Bach und ganzjährig schneebedeckte Alpengipfel inklusive. Es sind die mittelalterlichen Prachthandschriften auf Pergament, die gerahmt an den Wänden von Günthers Arbeitszimmer hängen und gebunden auf seinem Tisch liegen. Einzelblätter aus uralten Handschriften, aus Bibeln und Büchern über die Jagd, Medizin, Alchemie. Prächtige Folianten, kunstvoll illustriert, handgeschrieben und -gemalt. Zeitzeugen längst vergangener Epochen, die ältesten haben mehr als 1000 Jahre überdauert. „Diese geballte Ladung kunstvoll geschriebener Wörter über Wissen, Erfahrung, Können und Geist sind die Wurzeln unserer abendländischen Kulturgeschichte“, erklärt Günther recht knapp. Man schluckt. Und es stimmt auch noch!
2
Der 54-jährige promovierte Kunsthistoriker und Literaturwissenschaftler, gebürtiger Hamburger, ist Bücherjäger von Beruf. Die Trophäen, denen der vor drei Jahren von Hamburg in die Schweiz verzogene Antiquar hinterherjagt, sind meist lang verschollene, extrem seltene Handschriften und Bücher aus der Zeit vor der Erfindung des Buchdrucks. Er spürt sie in entlegenen Privatsammlungen, Burgen und Schlössern auf, sucht sie auf verstaubten Dachböden, in dämmrigen Klosterbibliotheken und bei Auktionen. Das machen nicht viele. Jörn Günther ist Stammaussteller bei den Leitmessen der Branche in Paris, New York und Maastricht. Er ist der respektierte Hüter der alten Pergamente, einer der weltweit führenden Händler. Zu Günthers Kunden zählen neben Reichen und Megareichen auch das Getty Museum in Los Angeles, das Metropolitan Museum in New York, die Bayerische Staatsbibliothek in München und die British Library in London.
Die Bilder an der Wand sind Einzelblätter aus Manuskripten des 10. Jahrhunderts und seiner Nachfolger. Günther verkauft sie nicht, es sind seine Lieblingsstücke. „Im Mittelalter wurden Bibeln und Gebetsbücher, Reiseberichte, medizinische Bücher, liturgische, literarische und alchemistische Schriften von Künstlern mit illuminierten Initialen und Miniaturen geschmückt. Die Buchmalerei steht Tafelbildern an Schönheit und Qualität in nichts nach“, erklärt Günther. Dann deutet er auf den Tisch, auf dem er ein paar weitere Schätze abgelegt hat: eine handgeschriebene Bibel etwa von 1240 aus der Abtei im belgischen Aulne, verblüffend
vielfarbige Miniaturen, die frisch leuchten, als wären sie eben erst gemalt, nicht vor knapp 800 Jahren. Die Bibel ist mit Blattgold ausgeführt, 760 Seiten, durchgehend auf Pergament geschrieben. „120 Schafe mussten geschlachtet werden, um aus ihrer Haut so viele Pergamentseiten herzustellen“, erklärt Jörn Günther. „Damals galt schon als wohlhabend, wer 30 Schafe besaß. Die Handschriften hatten von Anfang an einen enormen materiellen Wert.“ Die Bibel ist Günthers derzeit wertvollster Schatz aus dem Mittelalter. Wer sie kaufen möchte, muss wissen: Vier Millionen Euro verlangt Günther - dafür könnte man auch eine Villa an der Hamburger Prachtstraße Elbchaussee erwerben.
Mit geübtem Griff fischt der Bücherjäger als Nächstes ein Evangeliar vom Tisch und drückt es einem in die Hand: „Um 900 entstanden, mit dem Text des Neuen Testaments.“ Die Kostbarkeiten sind nicht nur etwas für Tresor oder Vitrine. Man darf die wertvollen Bücher anfassen, durchblättern, sogar darin lesen, sagt der Fachmann. Das gut 1000 Jahre alte Stück, das er einem Schweizer Sammler abgerungen hat, kostet 2,8 Millionen Euro. „Es ist das wohl älteste Buch, das man derzeit auf dem freien Markt kriegen kann“, sagt Günther mit leuchtenden Augen.
Das dickste Buch, eine prachtvoll illustrierte Handschrift aus dem Jahr 1440 mit einem Kapitel zur Römischen Geschichte von Titus Livius, deren Seiten aus 100 Kälberhäuten gemacht wurden, hat er vor knapp zwei Jahren „nach vielen Treffen und Telefonaten“ aus einer Privatsammlung in Irland gekauft. Der Geldwert auch dieses
3
Wälzers liegt im siebenstelligen Bereich. Ist er durch die Umsatzaussicht auf sein besonderes Business gekommen? Günther lehnt sich im knarrenden Gartenstuhl zurück, rückt die Brille auf der Nase zurecht und guckt versonnen auf die weißen Gipfel gegenüber. „Ich war schon immer ein Bücherwurm. Schon als Steppke benutzte ich sie als Kopfkissen. Mit fünf konnte ich lesen. In Urlaube nehme ich ein Buch pro Tag mit. Und das Sammler-Gen hat mir wohl mein Vater vererbt. Der hat alte Bauernhäuser, Kutschen, Schreibmaschinen und all so Sachen gesammelt“, sagt der Antiquar.
Als Jörn Günther 14 war, brachte der Vater, vermögender Immobilienkaufmann, eine Handschrift aus dem Jahr 1410 mit nach Haus, die Weltchronik des mittelalterlichen Dichters Rudolf von Ems. Er hatte die gotische Schrift einer Erbengemeinschaft für ein paar hunderttausend Mark abgekauft. Die Glücklichen hatten das Manuskript in einem Kissenbezug verpackt auf dem Dachboden eines Ferienhauses auf der Nordseeinsel Sylt gefunden. Günther senior griff zu. Aber nur, weil er hörte, dass auch der legendäre Antiquar Hans Peter Kraus, ein in die USA emigrierter österreichischer Jude, das Buch erwerben wollte. „Vater bot der Erbengemeinschaft einfach ein paar tausend Mark mehr. Er hatte zwar keine Ahnung von alten Handschriften, aber er ahnte, dass die ihr Geld wert sind“, sagt Jörn Günther.
Als er die Chronik mit den 365 Miniaturen zum ersten Mal sah, war das für ihn ein magischer Moment: „Das Buch sog mich förmlich in sich hinein. Das ist genau mein Ding, dachte ich. Damit
beschäftige ich mich in meinem Leben.“ Das wertvolle Pergamentmanuskript fand im Regal seines Zimmers Platz. Günther senior wurde mit seinem Coup zum Schriftensammler, Günther junior begleitete den Vater in Auktionshäuser, beriet ihn beim Kauf weiterer Schriften. Er schmökerte in Fachliteratur und sog Wissen „wie ein Schwamm“ auf. Bereits als Jugendlicher wurde er zum Kenner mittelalterlicher Handschriften.
Zwischen Abitur und Studienbeginn machte er ein dreimonatiges Praktikum ausgerechnet bei dem Mann, den sein Vater beim Sylter Kauf düpiert hatte, bei Hans Peter Kraus in New York. Der wollte den Sprössling der Familie aus Hamburg, die ihm die Chronikhandschrift so forsch vor der Nase weggeschnappt hatte, unbedingt kennenlernen. Unter Kraus’ Anleitung lernte Günther herauszufinden, wie selten ein Buch und ob es vollständig ist. Er lernte zu katalogisieren und in den Schriften zu blättern, zu fühlen und zu hören, wenn eines der Blätter nicht das angepriesene Original war - und somit weniger wert.
Meine Promotion 1990 über alle illustrierten mittelhochdeutschen Weltchronikhandschriften war mein Jagdschein“, sagt Jörn Günther. Er hatte bereits eine beachtliche Handbibliothek angesammelt, verfügte über gute Kontakte und wollte in seinem Business der Beste werden. Er machte sich selbstständig, „die Großwildjagd begann“.
Sie ging gut los. Einen Hamburger Unternehmer, einen Kölner Urologen und die Erbin einer großen deutschen Brauerei beriet er beim Aufund Ausbau ihrer Schriftensammlungen.
4
Schweizer Banker und französische Industrielle, arabische Scheichs und griechische Reeder, Millionäre und Milliardäre aus den USA, Norwegen, Belgien, den Niederlanden, Deutschland, Italien und Spanien sind neben vielen Bibliotheken und Museen seine Kunden. Er fliegt um die Welt, er sucht und sichtet, fahndet und forscht. Etwa 200 alte Schriften - Einzelblätter, gebundene Manuskripte und seltene gedruckte Bücher - hat er immer im Angebot, für Preise zwischen 30 000 und mehreren Millionen Euro. Und er kennt die anderen Bücherjäger. Der italienische Bestsellerautor Umberto Eco sei ein manischer Sammler, verrät Günther, und dass fünf der wertvollsten Privatsammlungen der Welt Frauen gehören. Für manche Auktion bei Christie’s oder Sotheby’s bekomme der Antiquar von seinen besten Klienten Carte blanche, sagt er: Um die Objekte der Begierde zu ersteigern, die oft von Künstlern wie Jean Colombe und Albrecht Dürer illuminiert oder illustriert worden sind, darf er so viel bieten, wie er will.
Die Rudolf-von-Ems-Chronik, mit der vor gut 40 Jahren für Günther alles begann, ist längst, wie rund 30 weitere Handschriften auch, an das Getty Museum in Los Angeles gegangen. Eine bessere Referenzadresse gibt es nicht, sagt Günther: „Getty kauft nur das Beste vom Besten.“
Ständig muss er für Nachschub sorgen, auf der Lauer liegen, schneller als die Konkurrenz sein, denn gut die Hälfte seines Bestands verkauft er im Lauf eines Jahres, sagt der Bücherjäger in seinem 240 Quadratmeter großen „Spezialantiquariat für das
Sammelgebiet illuminierte Handschriften, Miniaturen und frühe Drucke des Mittelalters und der Renaissance“ in der Basler Altstadt. Acht Mitarbeiter gehören zum Geschäft: Bibliothekswissenschaftler, Kunstgeschichtler, Historiker, ein Restaurator. Eine Spezialfirma kümmert sich um die Zollabwicklung, ein Fotograf setzt die mit Blattgold veredelten Buchmalereien für die Kataloge ins rechte Licht.
Im Keller des Geschäfts lagern auch etwa 40 sehr alte Bücher. Günther hat sie gerade dem 22-jährigen Sohn eines verstorbenen griechischen Reeders abgekauft und bereits wieder verkauft. So schnell kann es gehen. Und wer ist der neue Besitzer? Günther lächelt. „Ein anderer.“ Und wo lebt der andere? „In einem Haus.“ In welchem Land? Jörn Günther zeigt nur noch ein Schulterzucken. Diskretion ist in seinem Geschäft unerlässlich. Unlängst hat Jörn Günther eine exklusive Sammlung von frühen Drucken für mehrere Millionen Euro in die Arabischen Emirate verkauft, auch hier nennt er den Käufer nicht. An der Zusammenstellung der Sammlung hat er acht Jahre gearbeitet und dabei ziemlich viele Flugmeilen angehäuft. Auf drei Kontinenten hat der Bücherjäger die „extrem seltenen Schriften“ entdeckt und erworben. Die einmalige Kollektion besteht aus den „größten denkbaren Trophäen der Reiseliteratur überhaupt“, sagt Günther, und diesmal schleicht sich doch etwas Stolz in die Stimme. Die Schriftstücke stammen von großen Männern: „Christoph Kolumbus, Vasco da Gama, Marco Polo, Ferdinand Magellan, Amerigo Vespucci berichten an Königshäuser, Gönner und Sponsoren von den Geschehnissen auf ihren Entdeckungsreisen“,
5
präsentiert Günther seine Autorenschar, „es fiel mir besonders schwer, mich von diesen Schriften zu trennen.“
Im Frühjahr kam Günther bei einer Messe in Paris mit einem Franzosen ins Gespräch. Es stellte sich heraus, dass jener eine Chronik aus dem 15. Jahrhundert besitzt, die seit 1887 als verschollen gilt. Seit 125 Jahren hat sie niemand mehr zu Gesicht bekommen. Jörn Günther will der Erste sein, und er hat gute Chancen. „Wenn ich die Chronik sehe, ist das für mich der Moment des ganz großen Glücks“, weiß er schon jetzt. Die Augen blinzeln hinter Brillengläsern. Der Bücherjäger hat die Fährte aufgenommen. Jetzt will er die Trophäe aus Pergament auch erwischen.