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Rendezvous der Legenden / St. Moritz Automobile Club Magazine (10 Seiten) / 2013

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Rendezvous der Legenden
3’100 Kilometer quer durch Mexiko – durch Wüste und Dschungel, Prärie und Gebirge.
Für viele Rennfahrer und Motorsport-Enthusiasten ist die Carrera Panamericana das, was für Bergsteiger der
Mount Everest ist: das Höchste
Fotos: David Klammer
Die Haases trauen ihren Ohren nicht. Das Unternehmer-Ehepaar hört die Kontrahenten bereits von weitem. Der bissige Motorsound jagt den Hamburgern einen gehörigen Schrecken ein. Und dann kommen sie pfeilschnell um die Kurve geprescht: Zwei Mercedes-Flügeltürer aus den frühen 1950iger Jahren. Einer Mattschwarz, der andere Silber. Beide stammen aus der bayerischen 300 SL-Schmiede von HK-Engineering.
Die sind doch jeder an die Millionen Euro wert“, sagt Albrecht Haase, 62, zu seiner Frau Christine, 59. „Und diese Ikonen der Automobilbau-Geschichte geben bei der verrücktesten Rallye auf dem Planeten Erde Gas. Alle Achtung.“ „Meinst Du, die hängen uns ab“, fragt Christine Haase. „Keine Ahnung“, erwidert ihr Mann. „Werden wir gleich sehen.“
Auch dem Schweizer Duo Fredy Niggeler, 56jähriger Landwirt aus dem Kanton Freiburg und Alessandro Forcella, 40jähriger Architekt aus der
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Nähe von St. Moritz, klappt bereits vor dem Start angesichts der Konkurrenz das Kinn herunter. „Mit unserem 65iger Volvo PV 544, der nicht mal 150 PS unter der Haube hat, werden wir hier wohl keinen Blumentopf gewinnen“, fürchtet Niggeler. „Aber wir geben unser Bestes.“ Sein Copilot Forcella nickt: „Es geht hier ja viel durch Gebirgslandschaften. Für uns Schweizer ist das also durchaus vertrautes Terrain.“
Schnell, legendär und gefährlich
Wir sind in der Hafenstadt Veracruz am Golf von Mexiko, beim schnellsten, härtesten und gefährlichsten Oldtimer-Straßenrennen der Welt. Wir sind bei der legendären La Carrera Panamericana.
Wie jedes Jahr geht die Rallye, nach der Sportwagen (Porsche), Uhren (Tag-Heuer) und Kinderzimmer-Rennbahnen benannt wurden, über sieben Tage und gut 3000 Kilometer quer durch Mexiko. Diesmal vom tropischen Veracruz bis in die alte Silberstadt Zacatecas. Durch Wüste und Dschungel, Hochgebirge und Prärie. Die Temperaturschwankungen unterwegs sind enorm: von 40 Grad im Schatten bis um den Gefrierpunkt.
113 Oldtimer (die jüngsten sind Baujahr 1974, die ältesten aus den 1940iger Jahren) stehen am Start. Im Cockpit: Nord,- Mittel- und Südamerikaner. Und Europäer. Unter ihnen 12 Teams aus Deutschland, fünf aus der Schweiz, eins aus Österreich. Ein weibliches Duo aus Mexiko und zehn Co-Pilotinnen sorgen für Frauenpower bei der Carrera.
Viele Racer sind reich, manche wichtig, einige mächtig. Ein paar – wie die deutschen und niederländischen Ex-Formel-1-Legenden Jochen Mass und Gijs van Lennep – sind auch berühmt. Für die meisten Teams ist die Carrera das, was für einen Bergsteiger der Mount Everest ist: Das Höchste, Highlight ihrer ganz persönlichen Rennsportkarriere.
1950 wurde die Carrera Panamericana das erste Mal gestartet. Am Steuer damals: Rennsportasse wie Hans Herrmann, John Fitch, Weltmeister Juan Manuel Fangio. Anfangs war die Carrera ein Kräftemessen für Neuwagen. Ferrari, Lancia, Oldsmobile gewannen. Vor genau 60 Jahren landete Mercedes einen Doppelsieg – mit 300 SL-Flügeltürern! Das Gewinnerteam: Karl Kling und Hans Klenk. Trotz Geiereinschlags, der bei Copiloten Klenk zu kurzer Bewusstlosigkeit führte, kachelten sie nach über 3000 Kilometern als erste über die Ziellinie und setzten einen Meilenstein in der Mercedes-Rennsportgeschichte. Weil sich die schweren Unfälle jedoch häuften, wurde die Carrera 1955 – gerade hatte sie den Sportwagen-WM-Status erreicht – abgesagt und die Vollgas-Veranstaltung eingestellt. Seit 1988 gibt es sie wieder – als Oldtimer-Rallye, die an alte Reglements und Traditionen anknüpft.
Die Carrera ist ursprünglich, wild, ehrlich“, sagt der ehemalige Formel-1-Grand-Prix-Gewinner Jochen Mass, der zum dritten Mal dabei ist und diesmal mit einem Mustang über Mexikos Straßen jagt. „Sie ist abenteuerlicher als alle anderen Motorsport-Veranstaltungen, ein Dinosaurier. Über ihr weht noch der alte Rennsport-Geist.
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Ihn treffe ich sonst nirgendwo mehr. Seinetwegen bin ich hier.“
Für Fittmachen und Verschiffung der Boliden, Ersatzteile, Serviceteam, Hotels und Flüge haben die Rennsport-Enthusiasten zwischen 50 000 bis 250 000 Euro investiert.
Die Hamburger Haases sind seit 25 Jahren verheiratet und genauso lange Inhaber eines auf Osteuropa und die russische Förderation spezialisierten Handelsunternehmens. Vornehmlich mit Premium-Babypflegeprodukten und Dallmayr-Kaffee machen die Kaufleute jedes Jahr Umsätze im hohen zweistelligen Millionenbereich. Sie beschließen mit ihrem grauen Jaguar MK 1, den sie „Rennsau“ nennen, 220 PS, 240 Sachen Höchstgeschwindigkeit, Baujahr 1958, ein Rennen im Rennen gegen die Flügeltürer zu fahren. „Ich will sie jagen und möglichst weit vor dem Ziel im Rückspiegel sehen“, sagt Albrecht Haase. „Ich möchte gesund ankommen“, entgegnet Ehefrau Christine.
Die Hanseaten sind schon alte Carrera-Hasen. Drei Mal fuhren sie bereits mit, nur ein Mal haben sie es bis ins Ziel geschafft. Doch so sauteure Schlitten vom Kaliber der Flügeltürer haben sie hier noch nicht gesehen, die werten die Carrera noch einmal mächtig auf, sagen sie.
Im silbernen, 270 Sachen schnellen Flügelflitzer sitzt das brasilianisch-britische Duo Bernardo Hartogs, 56, und Anton Bilton, 48. Vermögende Geschäftsmänner aus London, die eben noch an der Börse am großen Rad gedreht und jetzt ihre Business-Anzüge gegen Rennoveralls getauscht haben. Die Geschäftsfreunde sind
Hobby-Piloten, die von der Carrera viel gehört haben und jetzt einfach mal dabei sein wollen. Im mattschwarzen 300 SL sitzen die Österreicher Gerald Brandstetter, 73, pensionierter Oberarzt und Erich Ölschlaegel 67, dem die Parfümeriekette Nägele & Strubell gehört. Beide sind erfahrene Asphalt-Füchse. Hier erfüllen sie sich nun ihren Lebenstraum, sagen sie. „Wenn es perfekt läuft, wollen wir die Carrera zumindest in unserer Wertungsklasse dominieren. Und das 60 Jahre nach Kling, Klenk und dem Geier“, sagt Gerald Brandstetter. Sein Copilot ergänzt: „Es ist das exzellenteste Rennen, bei dem wir mitfahren können. Mehr geht nicht.“
900 PS unter der Haube
Stotternde Studebaker (bis 900 PS unter der Haube und 310 km/h schnell), obertourige Oldsmobiles, bollernde Buicks und BMW, lärmende Lincoln, aufbrausende Alfas, dröhnende Datsuns, motzende Mustangs und Mercedes, coole Corvetten und Chrysler, prustende Porsche und jaulende Jaguar gehen im Abstand von 30 Sekunden auf die Strecke.
Fünf bis zehn Speedetappen pro Renntag, fünf bis 30 Kilometer lang. Doch auch bei den täglich einige hundert Kilometer langen Transferstrecken kacheln die Piloten wie bei einer Verfolgungsjagd im Agentenkrimi. Sonst verpassen sie den nächsten Start, kriegen Strafzeiten aufgebrummt. Die Speedetappen sind für den Verkehr gesperrt, die Pisten dorthin nicht. Für die Rennfahrer sind trotzdem alle Verkehrsregeln außer Kraft gesetzt. Sie besitzen in der
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Carrera-Woche die Lizenz zum Rasen. In 30-iger Zonen brettern die Boliden 130 Sachen. Sie ignorieren rote Ampeln, überholen Trucks und Pferdegespanne auch rechts auf schmalen Landstraßen. Nichts ist unmöglich.
Dafür sind die Sicherheitsbestimmungen für die Rennautos extrem: In die Überrollkäfige sind 24 Meter Stahlrohr verarbeitet (in Europa reichen bei Rallyes meist acht Meter). Kopfrückhaltesystem, Vierpunktgurte, Fangnetze, Feuerlöschanlagen vom Feinster sind Pflicht. Da gucken die Veranstalter mit Argusaugen drauf. Ansonsten herrscht Ausnahmezustand auf dem Asphalt.
Manager und Aufsichtsräte werden zu Adrenalin-Junkies. Besonnene zu Bleifüßen, Ruhige zu Rasenden, Distinguierte zu Desperados. Einige schinden ihre alten Autos, als gebe es kein Morgen mehr. Und mancher Pilot kennt nur noch eine Pedalstellung: Vollgas.
Bei den Zwischenstopps immer wieder die bangen Fragen: Wer und wie? Wer ist von der Straße geflogen - und wie geht es ihm?
Unfälle gibt es täglich einige, meist mit glücklichem Ausgang. Allzu forsche Racer kriegen die Kurve nicht, Bremsen versagen, Achsen brechen. Ein Studebaker-Pilot verunglückt jedoch tödlich, sein Beifahrer kommt schwer verletzt ins Krankenhaus. Der Mexikaner verliert die Kontrolle über sein getuntes Geschoss und landet abseits der Straße in der Prärie. Auf einer Achterbahn-Etappe rauschen gleich fünf Wagen hintereinander 20 Meter ins Tal hinunter. Ein schlimmer Anblick. Doch nur ein Pilot bricht sich das Bein, die
anderen kommen mit Kratzern davon. Ein am Unfall beteiligter US-Amerikanischer Studebaker nimmt das Rennen tags darauf sogar wieder auf. „Darum geht es uns vom Rennvirus Infizierten doch auch“, erklärt der betroffene Studebaker-Pilot Adrian Gerrit, 32, mit blitzenden Augen in seinem völlig verbeulten orangenen Boliden sitzend. „Du kommst vom Weg ab und kämpfst dich wieder rauf. Das ist die Carrera Panamericana. Sie macht Helden.“
Ein Wahnsinns-Rennen mit vielen Verückten“, stellt der Schweizer Carrera-Neuling Fredy Niggeler fest. „Grenzenlose Freiheit gibt es nicht nur über den Wolken“, schwärmt sein Copilot Alessandro Forcella nach ein paar Dutzend Speedetappen durch Bilderbuch-Westernlandschaften mit Kakteen-Wäldern und staubtrockenen Canyons. „Es gibt sie auch auf den mexikanischen Carrera-Straßen.“
Viel Fiesta, kaum Siesta
Start ist stets im Morgengrauen, Zeitdruck auf den Transferstraßen, High-Speed den ganzen Tag. In den Cockpits ist es heiß wie in der Sauna. Rennanzüge und Helme sorgen für zusätzlichen Hintzestau in den rasenden Schwitzkästen. Technische oder aus Crashs resultierende Defekte, die in Windeseile auch mal in der kleinsten Schrauberbude am Straßenrand behoben werden. Triumphfahle Einfahrten in die Etappenzielorte, in denen dreispurige Highways und Hauptplätze für die Carrera-Piloten gesperrt sind, als wären sie Staatspräsidenten. Vor Begeisterung kreischende Schulklassen, Bier- und Champagnerduschen, Musik- und Tanzgruppen,
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Menschenauflauf, Mädchen in knappen Kostümen und Miniröcken, die mit den Racern für Fotos posieren. Adrenalin abbauen in den Luxushotels.
Die Carrera ist der ultimative Stresstest für Mensch und Maschine“, sagt Christine Haase. „Ganz viel Fiesta und kaum Siesta“, sagt ihr Mann und wischt sich, umringt von Zuschauern im malerischen Tagesziel Guanajuato, den Schweiß von der Stirn.
Plötzlich frei laufende Esel auf der Speed-Strecke oder doch Gegenverkehr von klapprigen Kisten, die aus irgendeiner Nebenstraße kommen. Frisch geteerte, mit Rollsplit versehene Abschnitte, von denen nichts im Roadbook steht. Atemberaubende Abhänge ohne Leitplanken, Rasiermesserscharfe Kurven, Bodenwellen wie Sprungschanzen, Schlaglöcher wie Fallgruben: all das macht Reiz und Risiko der Carrera Panamericana aus. Christine Haase schafft es zwei Mal mit ihrem Zeitmessgerät nur mit Taxi ins Tagesziel und wickelt dort den zuständigen Zeitnehmer so geschickt um den Finger, dass er ihr keine Strafminuten gibt. Der Jaguar der Hanseaten hat schlapp gemacht, und kein Mechaniker war rechtzeitig zur Stelle. Das 300 SL-Duo Brandstetter und Ölschlaegel schnappt sich in höchster Zeitnot einen Motorrad-Polizisten, der sie mit Blaulicht gerade noch vor Ablauf des Zeitlimits ins Ziel lotst. Bei ihrem Rennflügel war die Bremsanlage komplett ausgefallen, den Österreichern blieb nur noch die Handbremse. Bernardo Hartogs und Anton Bilton im silbernen Flügel sind einfach nur froh, auch nach dem sechsten Renntag – nur mit Beule am Heck - noch im Rennen
zu sein. Und Jochen Mass rast mit seinem Mustang in die Top Ten der Gesamtwertung. „Ich habe unterwegs immer wieder Rendezvous mit dem alten Rennsportgeist“, sagt der ehemalige Formel-1-Punktesammler lächelnd. „Unsere Treffen machen mich glücklich.“
Nur 84 von den 113 gestarteten Rennwagen schaffen es bis ins Ziel in Zacatecas. Das Schweizer Duo Niggeler und Forcella lassen mit ihrem alten Volvo in der Gesamtwertung immerhin 13 Konkurrenten hinter sich, sogar drei Porsche und auch drei Alfa Romeo. Das österreichische Duo gewinnt mit dem schwarzen HK-Engineering Mercedes tatsächlich in seiner Wertungsklasse. Die Haases sind nach den 3100 rasanten Kilometern quer durch Mexiko sogar noch vier Minuten schneller und klettern in ihrer Klasse ebenfalls ganz nach oben aufs Podest. „Jaaaa“, jubelt Christine Haase, streckt die Arme zum Stoßgebet in den Sternenhimmel und lässt Freudentränen fließen. Ihr abgekämpfter Mann Albrecht indes resümiert hanseatisch-trocken aber vollkommen glücklich: „Die Haasen-Jagd hat ein herrliches Ende genommen.“