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Tür an Tür mit Adolf Eichmann / Hamburger Abendblatt (eine Seite) / 2010

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Tür an Tür mit Adolf Eichmann
... und keiner hat’s gewusst. Fast vier Jahre lang lebte Hitlers Organisator der Judenvernichtung unter falschem Namen in einem Dorf bei Celle. Den Schatten wurden die noch lebenden Nachbarn bis heute nicht los
Fotos: Marcelo Hernandez
Das Forsthaus Kohlenbach liegt mitten im Kiefernwald. So einsam, dass hier nicht einmal das Handy Empfang hat. Bis zur nächsten asphaltierten Straße sind es vier Kilometer, bis zum nächsten Dorf Altensalzkoth noch ein paar Hundert Meter mehr. Vielstimmiges Vogelgezwitscher, ein Pferd auf der Koppel, beeindruckende Blütenpracht im Garten. Alte Buchen, mächtige Eichen und ein paar schlanke Birken säumen das Forsthaus. Nur staubige, unbefestigte Wege führen hierher. Es ist ein idyllischer Ort. Doch vor allem einer mit einem schaurigen Geheimnis.
Dort hinten stand die Holzbaracke, in der die 20 Waldarbeiter gewohnt haben. Und da im Bach haben die meist aus dem Krieg heimgekehrten Männer sich immer gewaschen. 1946 und 1947. Sommers wie winters“, sagt Günter Gottschlich, 82. Nach dem Krieg, nach Monaten in russischer Gefangenschaft, kam er mit nur noch 35 Kilogramm Körpergewicht hierher und fand im Forsthaus eine Anstellung als Küchenhilfe. Was niemand ahnte:
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Einer der 20 Waldarbeiter, für die Gottschlich einkaufte, schnippelte, abwusch und manchmal auch kochte, war der damals meistgesuchte Mann der Welt. Er nannte sich Otto Henninger, war tatsächlich aber Adolf Eichmann, Ex-Sturmbannführer der SS und Hitlers Cheforganisator der millionenfachen Judendeportationen in die Vernichtungslager. Ein gewissenloser Schreibtischtäter mit blindem, bedingungslosem Führer-Gehorsam.
Aus dem gerade zusammengebrochenen Großdeutschen Reich hatte Adolf Eichmann sich ins Reich der Heidekartoffeln und Heidschnucken verkrochen. Er war aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft geflohen und in der Heide untergetaucht.
Günter Gottschlich zögert lange, ob er in seinen Erinnerungen kramen soll. Mit einem Monster Tür an Tür gelebt, mit ihm gearbeitet und sogar geklönt zu haben – der Stachel sitzt noch immer tief. Das Thema ist ihm, ist den meisten Alten, die hier wohnen und die letzten Zeitzeugen sind, sichtlich unangenehm. Es ist wie ein grauer Schleier, der sich einfach nicht verzieht.
Eichmann trank keinen Alkohol. Fürchtete er, sich mal zu verplappern?
Gottschlich war knapp 18, als er Eichmann, den er bis heute nur „Henninger“ nennt, kennenlernte. „Henninger war ein Typ wie alle anderen auch. Er hat sich nicht hervorgetan durch irgendwas. Er hat täglich von sieben Uhr bis halb fünf seine Arbeit im Wald getan, das Holz hier zu Brennholz für Lokomotiven verarbeitet. Ansonsten war er unauffällig. Ein ruhiger Mann ohne Macken und prägnante
Eigenschaften“, erinnert sich der Rentner. „Man konnte sich gut unterhalten mit ihm. Wir haben über alles Mögliche gesprochen, nur nicht über den Krieg. Das Thema war tabu. Und getrunken hat der Henninger, anders als die meisten hier, keinen Tropfen Alkohol. Vielleicht fürchtete er, sich im Suff zu verraten.“
Warum Eichmann gerade hier untergetaucht ist? Gottschlich grübelt. „Der Bruder des Försters, Hans von Freiersleben, war auch ein hohes Tier bei der SS. Vielleicht gab es da eine Verbindung. Wäre denkbar.“ Günter Gottschlich zuckt mit den Schultern. Winkt ab. Mehr möchte er nicht sagen. Die Sache sei ja auch schon so lange her. Irgendwann sollte Gras darüber wachsen.
Für ein Zimmer von 18 Quadratmetern zehn Mark Miete im Monat
Als es Ende 1947, Anfang 1948 für die Waldarbeiter nichts mehr zu tun gab am Forsthaus Kohlenbach, verstreuten sich die Männer in alle Winde. Adolf Eichmann bekam vom örtlichen Wohnungsamt ein Zimmer im nahen Altensalzkoth zugewiesen, auf dem Hof der Familie Lindhorst. Vater Lindhorst war in den letzten Tagen des Krieges bei Berlin gefallen, die Mutter und ihre beiden Söhne, 15 und neun Jahre alt, bewirtschafteten die Äcker und Ställe allein. Eichmann alias Otto Henninger bewohnte ein 18 Quadratmeter großes Zimmer für zehn Mark Miete im Monat. Hochparterre, das Fenster ging nach hinten auf die Schuppen und Viehweiden. Und auf zwei Eichen. Die stehen noch immer da. Von Altensalzkoth, zwischen Eversen und Hustedt an der Landstraße 240 im Landkreis Celle gelegen, sind noch
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21 Häuser, ein wenig Vieh und 60 Einwohner geblieben.
Adolf Eichmanns Unterkunft ist heute das Schlafzimmer von Otto Lindhorst und seiner Frau Gertrud. Haben sie denn gute Träume? Das betagte Paar schweigt. „Der Eichmann hatte da nur ein Feldbett, einen Schrank und ein Radio Marke Eigenbau drin“, sagt Otto Lindhorst, der 15 Jahre alt war, als der Fremde in sein Elternhaus einzog, dann doch. „Es gab hier damals im Dorf nur dieses eine Radio. Es war ihm heilig. Er hat viel gehört. Nachrichten und Berichte von den Kriegsverbrecherprozessen, vermute ich.“
Otto Lindhorst ist nicht gerade gesprächig. Er überlegt lange, bevor er sich ein paar Sätze abringt. Seine Frau hätte am liebsten, dass er gar nichts sagt. Mit dem obersten Organisator der Judenvernichtung unter einem Dach gelebt zu haben sei nichts, worüber man gerne spreche. Das müsse doch jeder verstehen.
Was hat Eichmann hier gemacht? „Eine kleine Geflügelfarm aufgebaut. Da hinten, unter den Eichen“, sagt Otto Lindhorst zögernd. „Etwa 100 Hühner. Einmal kam er zu mir und hat sich darüber beschwert, dass der Fuchs ihm dauernd Federvieh klaut. Er hat den Zaun dann verstärkt. Als der Fuchs fernblieb, kam der Habicht. Also hat Eichmann auch noch ein Netz über seinen Hühnerauslauf gelegt. Dann hatte er Ruhe vor den Raubtieren.“ Die Eier habe Eichmann an die „Eieremma“ ins Nachbardorf Eversen geliefert. Für 20 Pfennig das Stück. Er konnte gut davon leben und sicher auch etwas sparen, glaubt Otto Lindhorst. „Er ging ja nie aus, reiste nie weg, war immer hier auf der Hühnerfarm oder im Zimmer.“
Als eines Tages Otto Lindhorsts Häckselmaschine mal umkippte
und nicht mehr funktionierte, habe der Untermieter sie ihm repariert. Dass er Maschinenbau studiert hat, habe er ihm dabei erzählt. Und überhaupt sei er immer sehr höflich und hilfsbereit gewesen, sagt Otto Lindhorst noch. Eine Zeitzeugin, die nicht genannt werden möchte, behauptet sogar, Eichmann sei „liebenswert und bescheiden“ gewesen: „Alle mochten ihn gern.“
Er war nicht höflich oder gar liebenswert. Er war unnahbar. Ich machte meist einen großen Bogen um ihn“, erinnert sich Heinz Krüger, 73, pensionierter Polizist, damals zwölfjähriger Nachbarsjunge, der manchmal auf dem Lindhorst-Hof mit dem Sohn gespielt hat. „Ich hatte immer das Gefühl, der Mann ist froh, wenn man ihn nicht anspricht. Nur einmal habe ich ihn in geselliger Runde gesehen. Beim Kartenspiel im Dorfgasthof Helms, paar Hundert Meter rechts die Straße runter.“
An was er sich noch erinnert? Dass Eichmann seine Hühner nicht mit „tijuk, tijuk, tijuk“ gelockt habe, wie die anderen es hier machten. Eichmann habe nach den Hühnern gepfiffen wie nach einem Hund. Und die Hühner haben pariert.
Erst zehn Jahre später erfuhr das Dorf, wer der Mann wirklich war
1950 verschwand Adolf Eichmann dann plötzlich aus Altensalzkoth. Seinen Vermietern sagte er, er wolle wieder in seinem alten Beruf arbeiten. Im Maschinenbau. Deshalb gehe er nach Schweden. In Wirklichkeit setzte er sich nach Argentinien ab, wo ihn der israelische Geheimdienst 1960 aufspürte. Erst als die Bilder des
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Festgenommen um die Welt gingen, erfuhren die Menschen in Altensalzkoth, wer da jahrelang ihr Nachbar gewesen war.
Ex-Polizist Heinz Krüger isst ein Stück von seiner ApfelSahnetorte. Er lehnt sich zurück. „Das ganze Problem mit dem Eichmann“, sagt er dann, „ist im Laufe der Jahre sehr belastend für mich geworden. Es ging mir auf die Psyche. Dass von deutschem Boden so viel Elend ausgegangen ist. Und es ist unfassbar, dass einer der Hauptschuldigen so lange mitten und unerkannt unter uns lebte. Vier Jahre lang. Das ist für uns nicht leicht zu verarbeiten. Aber zum Glück hat der Eichmann ja doch noch seine gerechte Strafe bekommen.“